Die Wahrheit: Frei, herrenlos, verwildert
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (203): Australische Dingos haben den Rücksprung vom Haustier zum Wildling vollzogen.
Von nomadisch lebenden, „herrenlosen“ Hunden gibt es naturgemäß wenige Lebensgeschichten – kein Herrchen, keine Biografie. Stattdessen werden diese verwilderten Hunde sporadisch fast überall auf der Welt verfolgt, vor allem, wenn sie wehrhafte Rudel bilden. Oder man fängt sie wie in Rumänien ein, kastriert sie und versucht sie an Interessierte im Ausland zu vermitteln. Eine Ausnahme bilden die indischen Straßenhunde, von denen es wohl rund 40 Millionen gibt. Denn der höchste Gerichtshof Indiens hat verfügt: Wer sie medizinisch behandelt, muss sie wieder da aussetzen, wo er sie einfing.
In der australischen Region Darwin will man die „Übergriffe“ der Dingos auf Schafe nicht mehr hinnehmen – und sie abschießen. Die Aborigines und verschiedene Naturschutzgruppen protestieren. Darwins Sicherheitskräfte warnen dagegen vor der „Dingogefahr in den Vororten“. Das Department of Agriculture and Food erklärt: „Dingos heißen die Hunde der Aborigines.“ In Australien bezeichnet man Feiglinge als Dingos. „Man kann sich nicht so recht einigen“, schreibt der Umweltjournalist Fred Pearce in seiner Verteidigung invasiver Arten („Die neuen Wilden“, 2016), „ob der Dingo als Fremder oder als Eingeborener ehrenhalber angesehen werden soll“.
Die Dingos sind die einzigen verwilderten Hunde, die es zu einer eigenen Art gebracht haben: Canis lupus dingo. Knochenfunde lassen vermuten, dass sie vor etwa 5.000 Jahren mit den Aborigines nach Australien kamen. Die Ureinwohner unterhalten zu den Dingos bis heute ein freundschaftliches Verhältnis – vor allem ihre Kinder.
„Die australischen Dingos leben wild und sind nicht von Menschen abhängig. Dieser Rücksprung vom Haustier zum Wildling macht sie für die Hundeforscher interessant“, schreibt die Gesellschaft für Haustierforschung. „Hinzu kommt, dass die Vorfahren der heutigen Dingos zu einem Zeitpunkt wieder verwilderten, als die Domestikation des Wolfes zum Haushund noch nicht sehr weit fortgeschritten war. Lange Zeit wusste man nicht, was man von diesen Hunden halten sollte.“
Merkwürdig sei nämlich, dass Australien der Kontinent der Beuteltiere war, aber der einzige große Beutegreifer des Kontinents kein Beuteltier war. Erst spät entdeckte man, dass es doch einen gab: den Beutelwolf, ihn hatten jedoch die Dingos ausgerottet, es gab ihn nur noch auf Tasmanien, wo keine Dingos leben. Dennoch konnte der Beutelwolf auch auf Tasmanien nur bis 1936 überleben, dann hatten weiße Siedler den letzten getötet.
Obwohl Dingo-Experten wie der Biologe Frank Wörner im Hundemagazin wuff von einem nur „geringen Domestikationsniveau“ sprechen, weil sie – folgt man dem Wolfsforscher Erik Zimen – „niemals mehr einer ‚Neudomestikation‘ unterlagen“, gibt es inzwischen Firmen, die Dingowelpen als Familienhunde anbieten und Tierschützer, die „Rescue Pet Dingos“ vermitteln.
Die Aborigines jedoch jagen nicht mit ihren Hunden, jeder Aborigine jagt für sich. Im Gegensatz beispielsweise zu den Amazonasindianern, den Engländern und den Deutschen. Hierzulande arbeiteten sich die Hunde langsam von Aas- und Abfallfressern zu Wach- und Kriegshunden und schließlich zu Jagdhunden hoch. Sie wurden quasi adlig, wobei sie sich spezialisierten – in Stöber-, Hühner-, Hetz- und Apportierhunde.
Nach Australien kamen mit den Weißen ab 1788 auch deren Nutztiere, unter anderem Haushunde. Sie paarten sich schon bald mit den Dingos. Das taten sogar solche, die von den Viehzüchtern zur Bekämpfung der Dingos eingesetzt wurden. Selbst der längste Zaun der Welt, der 5.400 Kilometer lange „Dingo Fence“, der die Schafweiden im Süden Australiens schützen soll, kann das nicht verhindern. Ebensowenig der „Dingo Management Plan“ im Bundesland Northern Territory, wo Darwin liegt.
Vermischung stößt auf Interesse
Australische Dingoforscher gehen davon aus, dass durch die Mischlinge das komplexe Sozialgefüge der Dingos zerstört wird. Schon meinen engagierte Dingoschützer, dass die „reinen Dingos“ zum Aussterben verurteilt sind – durch Vermischung. Die Ökologen wollen die letzten davon bedrohten „reinrassigen“ Dingos erhalten. Die Dingoforscher sind da flexibler: Sie sprechen von „Evolving Dingos“ – und verfolgen deren Vermischung mit Interesse.
Schon Darwin hatte aus Forschungsgründen Kreuzungen zwischen Dingos und Haushunden vorgeschlagen. Der Psychoanalytiker Jeffrey M. Masson fand heraus, dass verwilderte Hunde, die sich zu einem Rudel zusammengeschlossen haben, im Gegensatz etwa zu Wölfen „selten ein fürsorgliches Verhalten gegenüber anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft entwickeln“. Auch die australischen Dingoforscher bemerkten, dass durch die Paarung mit verwilderten Haushunden und den daraus hervorgehenden „Mischlingen“ das „komplexe Sozialgefüge“ der Dingos zerstört wird: Sie müssen in Freiheit die Sorge um andere erst wieder lernen.
Ähnlich verwandt wie die Papuas mit den Aborigines sind die Dingos mit den Urwalddingos, auch „singende Hunde“ genannt, die in den Bergwäldern Papua-Neuguineas leben. Der Journalist Jean Rolin unternahm für sein Buch „Einen toten Hund ihm nach“ (2012) Reisen in etliche Länder, um mehr über verwilderte Hunderudel zu erfahren. In Russland lernte er den Kanidenforscher Andrej Gontscharow kennen, der die frei lebenden Hunde in Moskau studiert.
Er unterscheidet bei den herrenlosen Hunden dort vier Gruppen, je nach ihrer Distanz zu den Menschen. Eine Gruppe hält dabei so gut wie keine Distanz ein, weil sie gelegentlich Bewachungsaufgaben übernimmt und dafür gefüttert wird – ihre Reviere sind einzelne Straßen, die sie gegen Hunde aus anderen Straßen verteidigen.
Singende Hunde in Tadschikistan
Forscher Gontscharow hat noch einige Exemplare der „singenden Hunde“ lebend gesehen – im Zoo der tadschikischen Kapitale Duschanbe. Diese Urwalddingos galten, wildlebend, seit 1970 als ausgestorben. Sie wurden 2020 jedoch in den Bergen von Neuguinea wiederentdeckt. Seitdem bemüht sich eine New Guinea Singing Dog Conservation Society um ihre Fortexistenz. Als Vorfahren der Dingos zählen sie zu den verwilderten Haushunden. Anders als die asiatischen Rothunde und die afrikanischen Wildhunde, die sozusagen wild geboren sind.
Und von der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik lesen wir: „Auf der Eberhard-Trumler-Station in Birken-Honigsessen gibt es Gehege mit australischen Berglanddingos und mit Steppendingos. Ihnen zur Seite gestellt ist ein Gehege mit türkisch-iranischen Straßenhunden. Der Sinn besteht darin, Hunde zu haben mit einem niedrigen Fortschritt der Domestikation und Hunde, bei denen der Prozess viel weiter fortgeschritten ist. Dies bietet Gelegenheit zu vielfältigen Verhaltensstudien.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels