Die Wahrheit: Abi-Ball mit Zetergreis
Auch wenn das Vertrauen in die nachwachsende Generation groß ist: Als Elternteil möchte man den hochpreisigen Abi-Ball zeitlich unbegrenzt mitnehmen.
D er Sohn bat, wir mögen für 80 Euro pro Kopf Karten für den Abi-Ball in einem Jahr kaufen. Ich war irritiert: „Für ein Fest in einem Jahr?“ Ja, erklärte der Sohn, wegen der Planungssicherheit. Sonst könne der Event-Service das Early-Bird-Angebot nicht halten.
Aber die Zeiten ändern sich nun mal. Heute ist eben nicht mehr Pausenhalle und selbstgemachter Nudelsalat zum Abi-Ball angesagt, sondern ein angemieteter Festsaal mit Profi-Fotografen, Live-Übertragung des Bühnen- und Tanzgeschehens auf Großbildleinwänden und einem mediterranen Buffet mit veganen Spezialitäten. Sollen sie machen, die jungen Leute.
Mein Vertrauen in die nachwachsende Generation ist groß. Sie sprechen fließend genderisch. Kann man sich drüber lustig machen, klar, aber sie bemühen sich wenigstens, niemanden auszugrenzen. What’s so funny about?
Sie haben für mehr Klimaschutz demonstriert, die Schule bestreikt und sich dafür verspotten lassen von Leuten, die angesichts einer aktuellen Studie, die nachweist, dass die letzten Sommer die wärmsten seit 2.000 Jahren waren, in tränentreibender Rechtschreibung zu Protokoll posten, vor 2.000 Jahren habe es doch noch gar keine Thermometer gegeben. Und die jungen Leute beauftragen trotzdem ein Jahr vor ihrem Abi einen Event-Service. Das ist Optimismus! Dabei wissen sie ja nicht mal, ob bis dahin nicht schon der Russe gekommen ist. Oder die Affenpocke.
Wir haben's versemmelt, tut mir leid
Gut gelaunt sitze ich daher beim Abi-Ball und denke: Ihr macht das schon. Wir haben’s versemmelt, tut mir leid. Wir haben euch den Klimawandel eingebrockt, Putin, Höcke und Trump, und selbst Oasis ersteht wieder auf, aber ihr haut uns da raus. Für meine Generation ist es langsam Zeit, Ruhe zu geben.
Dann sagt die Schülermoderatorin, dass die Eltern bitte bis 23 Uhr den Saal räumen mögen, damit sie ungestört allein feiern können. Ich lache und denke: lustiger Scherz! Bis mir klar wird: Die meinen das ernst. Um 23 Uhr ist Schluss mit Eltern. Inklusion von jedweder Abweichung, aber die Alten sollen gefälligst verschwinden, bevor die Party richtig losgeht? 80 Euro für lauwarmes Couscous mit Möhrenmatsch, und ich bin noch nicht mal betrunken? Was ist denn das für eine Spießerscheiße? Und Spießerinnen!
Wovor haben die denn Angst? Dass wir peinlich sind? Na und? Passen peinliche Alte nicht in die bessere Cis-Trans-Event-Early-Bird-Großbildwelt? Und was ist das für eine bessere Welt, wenn man es nicht mal einen Abend aushält, mit den Eltern zu feiern? Was ist los mit der Jugend? Event-Services engagieren, Partys ein Jahr im Voraus planen, plötzlich AfD wählen und schließlich beim Abi-Ball die eigenen Eltern nach Hause schicken – um elf!
Ich fürchte, für meine Generation bleibt doch noch eine Menge zu tun. Es ist noch zu früh, sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Wir müssen den jungen Leuten noch einiges beibiegen! Schimpfend und zeternd mache ich mich davon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen