Die Wahrheit: Beim Krankschreibearzt
Ärzte sind bekanntlich auch nur Menschen. Die einen heilen, die anderen machen krank. Ein Praxisbesuch.
Als wir vor einem Café sitzen, gehen zwei Frauen in etwa unserem Alter vorüber, und ich höre, wie die eine zu der anderen sagt: „Ich muss nachher noch zu meinem Krankschreibearzt nach Neukölln.“
Die Frau verfügt offenbar über einen Spezialarzt zum Krankschreiben, und darüber hinaus wahrscheinlich noch einen richtigen Arzt, für die Fälle, wenn sie wirklich was hat. Der wiederum schreibt nicht einfach auf Wunsch krank, und deshalb hat sie eben auch den anderen, eine nur unter Vertrauten kursierende kostbare Adresse, wie ältere Berliner sie oft auch für den Grasdealer haben. Doch wie haben wir ihn uns vorzustellen, den Krankschreibearzt von Neukölln?
Nichts leichter als das. Bestimmt ist seine „Praxis“ eine günstige Einraum-Ladenwohnung mit Schaufenster vorne zur Straße raus, am oder sogar noch hinter dem S-Bahn-Ring. Dort döst, „lebt“ und „arbeitet“ er auf einem runtergerockten Sofa; davor auf dem Couchtisch leuchtet, zwischen angeschimmelten Pizzakartons, dem Lesegerät für die Gesundheitskarte, leeren Flaschen, Röhrchen und angeschwärzter Alufolie, der gelbe Block für die Krankschreibungen.
Wir müssen mehrmals klingeln und mit der flachen Hand ans Fenster hauen, bis uns ein Typ undefinierbaren Alters endlich öffnet. Der Krankschreibearzt wirkt übernächtigt, die fettigen Haare sind flusenartig wirr an den Kopf geklatscht. „Wie lange?“, fragt er nur anstelle eines Grußes. „Welche Diagnose?“ Mit einem müden Wink seiner Hand, an der einige Schamhaare kleben, „bittet“ er uns hinein.
Def Leppard
Aus seinen Plastikbadelatschen lugen kamelartig verhornte Füße mit langen, schmutzigen Zehennägeln wie Greifenkrallen, in den grauen Bartstoppeln suppt geschmolzener Mozzarella. Sein Atem riecht unangenehm süßlich nach billigem Likör. Natürlich ist er in Räuberzivil. Die vermutlich schon in der dritten Woche diensttuenden Klamotten, eine Jogginghose sowie ein verblichenes T-Shirt mit dem Motiv einer Metal-Band aus den frühen 1980er Jahren stinken nach Schweiß, Urin und Zigarettenrauch.
Unser Fluchtreflex wird jetzt schier übermächtig, aber leider brauchen wir unbedingt eine Krankschreibung, und der Gesundmacharzt gibt uns im Leben keine, weil wir nun mal nichts haben, sondern bloß keinen Bock auf bescheuerte Maloche, also quasi doppelt nichts. Eigentlich nur wegen des olfaktorischen Super-GAUs haben wir den Laden mit einem Mundnasenschutz betreten, doch der Krankschreibearzt wäre kein richtiger Krankschreibearzt, wenn er uns jetzt nicht sagen würde, dass wir bei ihm „den Schwachsinn nicht brauchen“, ob wir denn immer noch „einer von diesen Drosten-Knechten“ wären? Und wahrscheinlich glaubten wir auch „diesen Klimaquatsch und den Verleumdungen der Volksverräter gegen Präsident Putin“.
Sein zuvor so fahler Teint switcht kurzzeitig ins Dunkelrote, doch rasch besinnt er sich wieder aufs Geschäft. Schließlich braucht er Geld für Stoff, und bald auch zum Untertauchen: Die Polizei und sämtliche Krankenkassen sind bereits hinter ihm her. „Ich kann auch Herzinfarkt aufschreiben“, bietet er an. „Allerdings nur gegen Cash. Fünfzig Euro für sechs Wochen.“
Weißarzt
Garantiert verirrt sich sicherlich ab und zu tatsächlich auch ein wirklich kranker Patient zu ihm, weil er auf der Plattform Doctolib, die das Fachgebiet „Krankschreibearzt“ nicht kennt, unter „Allgemeinmediziner“ einen schnellen Termin geschossen hat. Da ist die Heulsuse aber gehörig an den Falschen geraten, denn wütend fährt der sie an: „Was wollen Sie hier? Ich bin nur der Krankschreibearzt. Hauen Sie mir um Gottes willen ab mit Ihren ekelhaften Wehwehchen und belästigen Sie einen Arzt damit!“
Der aggressive Ton verwundert nur auf den ersten Blick. Doch auf den zweiten ist er allzu verständlich, denn natürlich ist der Mann nicht glücklich. So ein Schicksal sucht sich ja niemand aus. Er träumt oft von der Zeit, als er noch ein buchstäblicher Weißarzt war, in einem sauber gestärkten Kittel und mit einem Stethoskop um den Hals. Die Patienten – echte Patienten! – fragte er, was sie denn hätten, wo es denn wehtäte, wie es ihnen ginge, und das alles in Ausübung eines Berufes, der sinnvoll war und dem Wohle der Menschheit diente. Da wusste er noch, wozu er studiert hatte, da hatte das Leben noch einen Sinn.
Doch irgendwann muss er, ganz ähnlich wie Darth Vader, eine persönliche Wandlung durchlaufen haben, und infolge ungünstiger Entwicklungen, aber auch fataler Lebensentscheidungen, auf der dunklen Seite der Macht gelandet sein, bei den Krankschreibeärzten.
Jetzt gibt es natürlich kein Zurück mehr. Als Gesundmacharzt ist er für alle Zeiten verbrannt, für die Kranken wie die Kollegen. Wie er die hasst, und um ihr Verhältnis zu ihren Patienten beneidet, Menschen, die zu ihnen kommen, um sich von ihnen heilen zu lassen. Was für ein Vertrauen die haben müssen, und wie schön sich das für die Ärzte anfühlen muss. Er selbst hat nur noch eine ganz schwache Erinnerung daran. Dank der Drogen geht die hoffentlich auch noch weg. Dann umfängt ihn gnädige Nacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste