Die Wahrheit: Bäume in aller Munde
Nicht nur Marmor, Stein und Eisen werden falsch gebrochen, auch Sprachbilder erleiden metaphorisch Schiffbruch. Eine Sprachkritik.
Wissenschaftler denken in Begriffen, andere Menschen in Bildern, und Journalisten in schiefen. „Tiefgarage ist wieder aufgetaucht“, titeln die Elmshorner Nachrichten, „Pfarrer rennt Einbrecher in Grund und Boden“, jubelt die Fränkische Landeszeitung, und das Magazin Bank und Umwelt konstatiert: „Besonders seit der Klimawandel spürbar wird, sind Bäume in aller Munde.“
Katachresen, wie diese sprachlichen Karambolagen in der Fachwelt heißen, sind keineswegs schlecht. Dank ihnen gibt es in der ernsten Medienwelt immer etwas zu beschmunzeln, wenn wieder jemand zu schnell gedacht, nein: geschrieben hat, vom bildlichen Sinn abgekommen und im buchstäblichen gelandet ist. Dann werden „ukrainische Familienmitglieder ein Jahrhundert lang von Terror zerrissen“ und erleiden ein Martyrium, das weniger robuste Menschen keine Sekunde überleben. Harmloser und richtig lustig geht es aber in Deutschland zu: Dort „wackeln die ersten Trainer“ bereits kurz nach Beginn der Fußballsaison.
Manches wirft allerdings Fragen auf, statt einfach lachen zu machen. „Neue KI-Chatbots stellen herkömmliche Lehr- und Prüfungsmethoden auf den Kopf“? Ein rätselhafter Vorgang, für den natürliche Intelligenz in der Tat nicht ausreicht! Vorsicht ist also ratsam, zumal die Einführung dieser neuen Methoden „natürlich ein harter Schnitt ist, den man nicht übers Knie brechen sollte“ (alle Zitate: taz).
Auf Deutsch heißt eine Katachrese angeblich „Bildbruch“, obwohl niemand weiß, was ein gebrochenes Bild sein soll. Gebrochene Knochen – die gibt es, wenn auch nicht bei der Begrüßung von Joe Biden durch Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman: Zwar lautet der Fototext „Ein Faustschlag von weltpolitischer Bedeutung“ (hier und fortan mit einer Ausnahme: taz), doch tatsächlich sieht man bloß, dass beide „im Corona-Stil ihre Fäuste aufeinanderstießen“, wie es später fast korrekt im Fließtext heißt. (Kleine Hilfestellung: Sie stießen ihre Fäuste aneinander.)
Der Mensch hat Augen im Kopf, die alles sehen, indes auch ein Gehirn darin, das vieles besser weiß. „Das Museo de Americo in Madrid: Nicht nur die Sonne wirft darauf ein Schatten“, schreibt deshalb die Zeitung zu einem Luftbild und verbreitet en passant neue Erkenntnisse über unser Zentralgehirn, pardon, Zentralgestirn: Wahrscheinlich rührt auch die Nacht von der Sonne her, indem sie einen Schatten auf die Erde wirft!
Blaues Wunder Ulm
Keineswegs im Schatten befindet sich Ulm, diese laut taz „Stadt der Superlative: höchster Kirchturm neben abgefahrenstem Denkmal vor blauestem Himmel“ – dass es, ausweislich des Fotos, ein blassblauester und bewölktester ist, wird eine optische Täuschung sein, und der Klumpen im Kopf korrigiert sie zuverlässig. Man darf sich nicht vom äußeren Eindruck beirren lassen! Das gilt auch für die laut Bildzeile „Wanderer mit Windrädern“ – nur Leute, die am Schein haften, hätten dem Foto im Spiegel die Unterschrift „Wanderer ohne Windräder“ gegeben.
Wurde dieses Bild auf einem Gipfel geschossen, so auf einem See jenes, auf dem „der Saxophonist in Weiß, Beach-Cocktails und spiegelnde Sonnenuntergangsstrahlen“ zu erblicken oder besser hinzuzudenken sind, denn tatsächlich erblickt man zwei ältere Leute im Vordergrund, andere im Hintergrund, außerdem Bierflaschen und -gläser auf einem Tisch und keine Sonne.
Zwar kann es sein, dass im Druck nicht zu sehen ist, was im Original vorhanden war, oder dass im hektischen Zeitungsalltag ein Foto ausgetauscht und die fällige neue Beschriftung vergessen wird. Beides ist ausgeschlossen, wenn es sich laut Bildunterschrift um ein „Wandbild an den Hafenstraßen-Häusern“ in Hamburg handelt – doch wo sind die Häuser? Das Foto zeigt ein einziges.
Wären es mehrere, müsste man sich wundern, dass ein Wandbild mehr als ein Haus schmücken kann. Und sind es nicht eigentlich mehrere Bilder an der Wand, sodass besser von Wandmalerei die Rede sein sollte? Anders gesagt: Foto und Text lehren in vollendetem Zusammenspiel das genaue Hinsehen, vulgo den kritischen Blick! Gut gemacht!
Hinschauen ist wichtig. Noch wichtiger ist hindenken und mehr sehen, als da ist. Die Bildunterschrift „Muslime in der Shishan Moschee im jordanischen Sweileh waschen vor dem Gebet ihre Füße“ ist deshalb richtig, auch wenn die Muslime augenscheinlich ihre Hände waschen. Hände wie Füße sind Jacke wie Hose, schon mal gehört?
Die empirische Wirklichkeit ist das eine, aber sie ist bloß der äußere Schein. Die Presse aber erschafft eine eigene Welt, die die Wahrheit dahinter aufdeckt. So zeigt ein Foto, auf dem Lenin mit dem rechten Arm nach oben zu weisen scheint, in Wahrheit „Lenin, der, gottgleich, den Finger reckt“.
Sinnbildlicher Richtungsweiser
Gewiss, es ist nicht der Finger, und gereckt wird er auch nicht, sondern der etwas mehr als halbhoch gestreckte Arm weist sinnbildlich in die Richtung, wo der gute Mann die noch bessere Zukunft vermutet. Aber sonst stimmt gottgleich alles, abgesehen davon, dass Gott in der christlichen Ikonografie mit seinem Finger nach unten zu weisen pflegt, wo auf Erden die Menschlein sind.
An Fehlern lernt man, was richtig wäre, und über diesen Umweg lehren Fotos das Sehen, Denken und Schreiben. Und das richtige Fühlen! „In der Region um Donezk ist das Leid unermesslich“ lautet die Unterschrift zu einem Foto, das im Hintergrund eine verschneite Landschaft zeigt und im Vordergrund, angeschnitten, also nicht ganz, ein Auto. Die Botschaft: Autofahren bei Schneewetter ist unermesslich leidvoll! So lernen deutsche Automobilisten Solidarität mit der Region Donezk, wenn die Straßen hierzulande verschneit sind. Was will man mehr?
Aber mehr gibt es nicht. Denn Fotos beweisen nichts – außer, dass sie kein Beweis sind. Oder nur einer im Zusammenspiel mit dem Wort. Das aber braucht keine Bebilderung, es ist auch so anschaulich komisch. „Die Lahn ist noch nicht in trockenen Tüchern“, meldet die Rhein-Zeitung, und nebenan geben die Mittelrhein Nachrichten bekannt: „Der Umzug zu St. Martin findet in diesem Jahr – anders als in all den letzten Jahren – am Montag, den 12. November, statt. Das Pferd kann am 11. nicht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin