Die Wahrheit: Paradies mit Lakritzknüppeln
Das neue Lieblingsurlaubsland der Deutschen und ihrer Mitinsassen: das sichere Drittland. Ein Buchungsbericht mit Vorfreuden aller Art.
Einerseits diskutiert das Land gerade den menschenfreundlichen Begriff „Remigration“, der am Montag prompt preisgekrönt wurde zum „Unwort des Jahres“. Andererseits kann man nicht ständig an die anderen denken. Denn viele Politiker, Polizisten, Unternehmer, Urgesteine, Unmenschen und andere ganz normale Deutsche buchen dieser Tage den Urlaub für dieses Jahr und kommen dabei um eine Destination nicht herum. Das Ziel, das jetzt alle haben. Das neue Lieblingsurlaubsland der Deutschen. Es heißt: „Drittland“.
Und wie viele Lieblingsurlaubsländer hatten die Deutschen in ihrer Geschichte nicht schon? Vor 150 Jahren waren es noch die USA. Damals war es kein Land voller Idioten, die an allem schuld sind, sondern ein Land voller Möglichkeiten. Das Reisebüro saß noch in Bremerhaven, und die Wartelisten waren lang. Aber irgendwann war der Glanz der USA vergangen und das Land nicht mehr voller Möglichkeiten, sondern voller Deutscher. Und wer will schon im Urlaub auf Landsleute treffen? Erst recht nicht, wenn man richtig lange bleiben will.
Die nächsten Spitzenziele lagen in Polen, Frankreich und anderen nahen Nachbarstaaten – vor allem in der Sowjetunion. Das heimatliche Reisebüro unter der Leitung eines Österreichers versorgte die Urlauber mit Kleidung und Nahrung und versprach einen Rundum-Sorglos-Urlaub, den man aus Fitness-Gründen auch zu Fuß antreten konnte. Doch wie die Geschichte gezeigt hat, waren das alles nur billige, ja trügerische Versprechungen.
Da ist das neue Topziel schon ein ganz anderes Kaliber. Das merkt man bereits am Namen. Denn der Reiseveranstalter preist es an als das „sichere Drittland“. Nicht zufällig ist es zurzeit sehr beliebt.
Paradies mit Geschlechtsverkehr
Man kennt das ja von früheren Urlaubsbuchungen. Zuerst sucht man sich ein Land aus, wälzt Reiseführer, sichtet Webseiten, lädt immer mehr Vorfreude auf die interne Festplatte, und am Tag vor der Abfahrt ist das Urlaubsziel großartig, die Küche köstlich, die Menschen sind freundlich, das Wetter scheint prächtig, die dort ansässige Bevölkerung setzt sich aus lauter potenziellen, extrem attraktiven Geschlechtsverkehrpartnern zusammen – kurz: Es ist das Paradies.
Einen Urlaub später weiß man allerdings: Es ist auch nur ein Land mit Leuten darin. Vorher war es schöner. Aber jetzt hat man es leider kennengelernt, und das war der Fehler.
Deshalb ist das Drittland so attraktiv, denn diese Art von Enttäuschung kann dort nicht passieren. Das Drittland ist nämlich eine stabile Demokratie, die Menschenrechte gibt es dort an jeder Ecke im praktischen To-go-Becher, Meinungsfreiheit fliegt den Einwohnern in den Mund, das Sozialsystem strotzt nur so vor Armutsbekämpfung und funktioniert besser als die Korruption in Österreich. Die Mieten sind niedrig, die Wohnungen hell, der Alltag ist auf angenehmste Weise voll digitalisiert, die individuellen Daten aber sind trotzdem geschützt – schließlich ist es ja das sichere Drittland.
Selbstverständlich muss auch im sicheren Drittland die Ordnung gewährleistet werden, deshalb ist die Polizei auch extrem xenophil, die meisten Beamten sprechen vier bis acht Sprachen und ihre Schlagstöcke sind schwarz, weil sie aus Lakritz sind.
Zarter Wind der Veränderung
Auch das Klima ist angenehm: Ganzjährig herrschen dort wohltemperierte 22 bis 26 Grad, Waldbrände oder Hochwasser sind unbekannt und der Wind der Veränderung bläst – nach dem Ergebnis einer Volksabstimmung – täglich ausschließlich von 15 bis 17 Uhr und auch nur ganz zart von Westen nach Osten.
Wohlgeordnet sind auch die Flora und Fauna: Der Baum der Erkenntnis steht unter Naturschutz, ständig vermehren sich die fleißigen Bienen und die frühen Vögel, Leistungsschweine ziehen durch den Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht und aus dem nur in ökologisch-vertretbarem Maß Holz entnommen wird, um jene Bretter herzustellen, die die Bevölkerung vor dem Kopf trägt. Wer würde also jemals wegwollen, wo es doch hier so schön ist?
Nur über die geografische Lage des sicheren Drittlandes herrscht Uneinigkeit. Für die einen könnte es Tunesien, für die anderen Libyen sein. Ob das sichere Drittland eine Diktatur ist oder nicht, ist dabei nicht so wichtig, denn – wir erinnern der Urlaubsbuchung! – diese Art von Ländern ist umso schöner, je weniger man von ihnen weiß.
Deshalb buchen die Deutschen wie verrückt One-Way-Tickets ins Traumland. Erstmals sind sie sich beim Reiseziel alle einig: Dort geht’s hin! Denn in Deutschland bucht man nicht für sich selbst diese Destination, sondern für den Nachbarn mit dem falschen Pass, der falschen Hautfarbe oder der falschen Überzeugung. Nach dem ultimativen Urlaubsmotto: Hauptsache, weg!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos