Die Wahrheit: Klappe halten für Palästina
Gegen Reizüberflutung: Die „Stille Stunde“ setzt sich durch in Deutschland – nicht nur beim Einkaufen. Endlich auch Ruhe in Schulen oder auf Demos.
Patrick Schröter leitet die Filiale einer großen Discounterkette im fränkischen Miltenberg, und seit zwei Monaten hat er jeden Mittwoch eine zusätzliche Aufgabe. Er muss dafür sorgen, dass ab 16 Uhr die „Stille Stunde“ eingehalten wird. So wie heute. Das heißt: Licht dämmen, Lautsprecher abmontieren, das Piepen der Strichcode-Lesegeräte deaktivieren, Aufräumarbeiten unterbinden und ein Schild mit der Aufschrift „Psst!“ sichtbar aufstellen. Dann ist reizarmes Einkaufen angesagt.
Mehrere Supermärkte in Deutschland haben mittlerweile „niedersensorische Spezialzeiten“ eingeführt, in Neuseeland kam das Konzept bereits vor vier Jahren auf. „Als ich davon zum ersten Mal hörte, habe ich nur gefragt: Wie bitte? Es war nämlich wieder mal sehr laut im Geschäft“, erinnert sich Filialleiter Schröter. „Unser Praktikant hat seinen Vorschlag dann noch einmal wiederholt: Autistische oder neurodiverse Personen sollen wenigstens einmal pro Woche befreit shoppen können, von grellen Farben und schrillen Tönen verschont … O, entschuldigen Sie mich kurz.“
Schröter schleicht sich von hinten an einen jugendlichen Kunden heran, der allzu geräuschvoll mit einer Chipstüte raschelt, und drückt ihm einen mit Chloroform getränkten Lappen auf den Mund. Der Störenfried geht zu Boden. „Die Durchsetzung der Regeln kostet Geduld und Einfallsreichtum“, flüstert Schröter. „Damit in der Stillen Stunde zum Beispiel niemand telefoniert, schalte ich Punkt vier einen Störsender an, der sämtliche Funksignale blockt – und leider auch Herzschrittmacher lahmlegt.“ Zu den weiteren unerwünschten Nebenwirkungen der selbstauferlegten Maßnahme zähle ein sprunghafter Anstieg von Ladendiebstählen, weil während der Stillen Stunde Alarmanlagen und Warensicherungssysteme außer Kraft gesetzt werden.
Happy Hour inklusive Quiet Hour
Hin und wieder einen Gang zurückschalten, das gibt es immer häufiger auch in anderen Bereichen. Die ersten Kneipen verbinden ihre tägliche Happy Hour mit einer Quiet Hour: Getränke gibt’s zum halben Preis, wer eins bestellt, hat es jedoch absolut lautlos zu konsumieren, ansonsten zahlt er das Doppelte. Und wer einmal eine Skatrunde ohne hysterisches Auf-den-Tisch-Klopfen und geblökte „Kult“-Sprüche erlebt hat, kann in diesem Spiel beinahe so etwas wie Spannung entdecken.
„Kopfhörer-Partys“ sind in vielen Discotheken seit den Nullerjahren gang und gäbe. Ein Club in Duisburg treibt die Idee der Silent Disco nun auf die Spitze. Die Tanzenden tragen Noise-Cancelling-Headphones und an den Füßen Plüschpantoffeln, die Discokugel wird mit neutralem Krepppapier abgeklebt, Leuchtkörper erstrahlen in warmem Dunkelgelb, man kann eine Plattennadel fallen hören.
Überhaupt scheinen gerade junge Leute von den sinnesschonenden Sonderzeiten angetan zu sein. Eine Oberschule in Annaberg-Buchholz wandelte die große Hofpause jüngst zur „Stummen Pause“ um, und zur Überraschung der Lehrkräfte, die seither nur noch die Hälfte an Psychopharmaka brauchen, halten sich die Schülerinnen und Schüler ausnahmslos an die Schweigeminuten. „Wir finden das doch selber ätzend, ununterbrochen zu kreischen und zu lärmen, aber das erwartet die Gesellschaft scheinbar von uns …“, wird ein Klassenstufensprecher zitiert.
Doch nicht überall lassen sich geplante Ruhezeiten rigide durchsetzen. Wiederholt wurden Krankenschwestern übel angegangen, nachdem sie unbelehrbare Patienten auf das „Ab um vier: Kein Mucks mehr hier!“-Poster hingewiesen hatten. Auch die Aktion der Deutschen Bahn „Der ganze Zug ein Ruheabteil“, bei der ausgewählte ICEs für 60 Minuten auf offener Strecke stehen blieben, stieß auf wenig Liebe. Es stellte sich heraus, dass die Nerven der Passagiere nicht geschont werden, heißt es „Alle Räder stehen still“.
Stille Zwangsstunde für Palästina
Auf Teufel komm raus funktioniert das Konzept ohnehin nicht, wie zuletzt Berlin feststellen musste. Behörden hatten Teilnehmenden einer Pro-Palästina-Demo eine „Stille Zwangsstunde“ auferlegt. Tatsächlich hielten sich diese daran, da sie aber gezwungen waren, für mehr als zehn Sekunden ihren eigenen Gedankengängen zu lauschen, kam es teils zu Gehirnaneurysmen, die kostspielige Notarzteinsätze bedingten.
Supermarkt-Chef Patrick Schröter bereitet sich derweil darauf vor, das „Psst!“-Schild mit großer Geste umzukippen. „Das knallt immer so herrlich!“, freut er sich. „Wer ADHS oder so hat und jetzt noch kommt: Pech gehabt! Der soll im Internet einkaufen, dort geht es doch entspannt und gesittet zu.“
Nun beginnt die Stunde nach der Stillen Stunde. Schnäppchenhinweise und Jingles werden dann mit doppelter Amplitude und Geschwindigkeit abgespielt. „Unsere Methode, um den versäumten Output an Werbebotschaften reinzuholen“, lacht Schröter. „Wir leben schließlich immer noch im Kapitalismus!“
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