Die Wahrheit: Schanflek
Ist „Die beiden Frankfurter und wöchentlich die Zeit“ nicht korrekt? In Frankfurt nicht: Da gibt es noch die „Frankfurter Neue Presse“.
O rrr, jetzt schon wieder der Hauptbahnhof – ich dreh noch mal durch! Durchdrehen tut allerdings wohl auch die Frankfurter Neue Presse, die gerade wieder ihren schrecklichen Artikel „Am Hauptbahnhof fühlen sich Frankfurterinnen und Frankfurter am unwohlsten“ aus dem späten Juni in den nächsten Umlauf geschickt hat.
Neben der Rundschau und der Allgemeinen Zeitung gibt es in Frankfurt nämlich noch die Neue Presse als etwas dümmere Lokalzeitung für die etwas beschränkteren kleinen Leute. Sie hat ihren eigenen Weg aus dem Zeitungssterben gefunden: Im sozialen Medium Facebook, wo ihr knapp 70.000 Leute folgen, verlinkt sie ihre beliebtesten, nieder- und klickträchtigsten Artikel immer wieder von Neuem, jedes Mal frisch anmoderiert, und verleiht ihnen auf diese Weise ewiges Leben.
„Ihr habt abgestimmt: die unangenehmsten Orte in Frankfurt“, heißt der Artikel dort. Angeteasert wird er professionell mit fünf Worten, die krass neugierig machen: „‚Eine Schande‘, schreibt eine Leserin.“ Und das ist es wirklich und wahrhaftig, denn der superlangweilige Text auf der eigenen Homepage beruht lediglich auf einer Onlineumfrage, bei der in 376 Antworten nicht mehr herausgekommen ist, als dass sich die Frankfurter:innen am meisten vor ihrem Hauptbahnhof ängstigen und vor auswärtigem Besuch sehr für ihn schämen.
Im Text befinden sich außerdem Reizwörter wie „Gewaltdelikte“, „Lost Places“, „zwielichtige Gestalten“ und „Polizeipräsenz“. Der eigentliche Artikel ist jedoch unwichtig, denn der FNP geht es nur um eines: saftige Kommentare und Klicks drüben bei Facebook.
Was genau jetzt im dortigen Kommentarbereich an raunenden Andeutungen über Drogenabhängige und weitere Minderheiten steht, muss man gleichfalls nicht wissen. Die Leute überbieten sich mit Gruselgeschichten, hinter denen, man ahnt es, vor allem jede Menge Angststörungen stecken. Dreck, Geruchsbelästigung, Urin, immer wieder die Forderung nach polizeilichem Aufräumen und sofortigen Ausweisungen, zwischendurch aber auch mal ein lapidares „Schanflek“. Und selbstverständlich die Scham, dass sich Frankfurt „gefühlt aufgegeben“ habe bzw.: „Die Zustände im Frankfurter Bahnhofsviertel und in der B-Ebene am Hbf. sind unbeschreiblich. So etwas wäre in keinem anderen Land der Welt möglich“, wie ein Martin schreibt. Und ein David sekundiert: „Ganz Deutschland ist eine Schande für die Welt!“ Wenn er wüsste, wie recht er hat.
Ich persönlich glaube, dass sich die Frankfurter:innen deshalb so vor ihrem Hauptbahnhof fürchten, weil er auch für jeden Außenstehenden die Fassade zusammenkrachen lässt, dass man sich in einer halbwegs intakten Stadt mit annehmbaren Sozialausgleich befindet. Wichtiger aber: Er erinnert die Bewohner:innen der Stadt schmerzhaft an die jederzeit offenstehende, vernachlässigte Möglichkeit, die Stadt ein für alle Mal zu verlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Bombenattentat in Moskau
Anschlag mit Sprengkraft
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Krieg in Nahost
Israels Dilemma nach Assads Sturz