Die Wahrheit: Trolle in Sankt Eulalia
Zu vollkommen unpassender Zeit läuten die Kirchenglocken. Sind die Gehilfen des Bösen schuld? An der Kneipentheke kennen die Zecher die Antwort.
R aimund erstarrte. „Hört doch!“, hauchte er. Wir lauschten angestrengt, hörten aber nur Petris, den Wirt des Café Gum, hinter der Theke mit den Gläsern klappern. „Die Glocken!“, sagte Raimund entsetzt. „Die Glocken von Sankt Eulalia!“
Tatsächlich läuteten die Glocken der Eulaliakirche, was nachts um halb zwölf sehr ungewöhnlich war. Theo jedoch zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist der Papst gestorben“, sagte er. „Unsinn“, sagte Luis. „Die Eulaliakirche ist evangelisch, die geht der Papst überhaupt nichts an. Pastor Dröse würde eher läuten, wenn Franz Beckenbauer gestorben wäre.“ – „Beckenbauer ist evangelisch?“ – „Was weiß ich! Aber Dröse ist Bayern-Fan. Der hat vor dem Champions-League-Finale 2020 in seiner Kirche sogar eine öffentliche Fürbitte für Neuer und Co gesprochen.“
Raimund stöhnte. „Es geht nicht um Beckenbauer: Putin ist das Stichwort!“, schimpfte er. „Also, bitte!“, sagte Carlo: „Bloß weil Dröse Bayern-Fan ist, würde er doch nicht …“ – „Da!“, rief Raimund. Die Glocken hatten von ihrem regelmäßigen Bim-Bam zu einem anarchischen Free-Jazz-Rhythmus gewechselt.
„Ich sag euch, das sind Putins Trolle!“, hauchte er: „Sie sind überall! Sie dringen in die Wasserwerke ein, in Ampelanlagen, in die Computernetze der Banken und stiften überall Chaos, Verwirrung und Aufruhr. Wahrscheinlich zieht schon ein Mob von aufgebrachten Leuten los, die das Gebimmel um den Schlaf bringt und die die Eulaliakirche in Schutt und Asche legen wollen!“
„Tja …“, sagte Luis nachdenklich: „Teresa hat mir gestern von einem Freund erzählt, der von seinem Milchaufschäumer attackiert worden sein soll.“ Raimund nickte. „Und ich hab von jemandem gehört, dessen E-Bike gegen seinen Willen immer weiter nach Osten gefahren ist. Er ist nur deshalb kurz vor der polnischen Grenze zum Stehen gekommen, weil er es schließlich geschafft hat, das Teil mit letzter Kraft gegen eine Telefonzelle krachen zu lassen.“
„Bullshit!“, schnaubte Theo: „Nicht mal im Osten gibt’s noch Telefonzellen! Es …“ Bevor er das ausführen konnte, ertönten hinter der Theke laute Flüche. Wir verstummten schlagartig. Petris drehte den Hebel des Zapfhahns hin und her, doch der Hahn gab nur ein asthmatisches Röcheln von sich. „O Gott!“, keuchte Raimund: „Jetzt haben sie auch das Gum gehackt!“
Nicht mal Theo traute sich zu widersprechen, denn wir alle wussten, dass das Fass, das Petris erst tags zuvor gewechselt hatte, nicht schon wieder leer sein konnte, und deshalb lagen außer Raimund auch Luis und Carlo bereits ohnmächtig am Boden, als Petris nach einigen endlosen Minuten aus dem Bierkeller zurückkam und berichtete, dass eine Maus das Versiegen des Bierstroms verursacht haben musste. Eine Maus ohne russische Uniform oder leuchtende Diodenaugen, die aber dem gewöhnlichen Nagetier-Faible für Gummischläuche nachgegeben hatte.
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