Die Wahrheit: Die Diebe des Minutenlichts
Durch den dunklen Hausflur tapern drei Gestalten. Sind es Einbrecher, Christen oder Ostler? Oder doch Knauser auf dem Stromspartrip?
A ls ich kürzlich abends die Wohnungstür öffnete, erschrak ich fast zu Tode. Durch den dunklen Hausflur schlich die dreiköpfige Nachbarsfamilie und freute sich: „Wir sparen.“ Kopfschüttelnd erinnerte ich mich an meinen Vater, der sich an meiner Stelle totgelacht hätte, wenn er nicht längst das Zeitliche gesegnet hätte.
Was er wohl zu den derzeit immer panischer werdenden Energiespar-Appellen der Ampelregierung sagen würde? Mit Energie kannte er sich aus. Sein halbes Leben lang hatte er sich bei den örtlichen Stadtwerken vom Straßenlampenelektriker bis zum Cheffinanzkassierer hochgearbeitet. Er war immer der größte Fan der seiner Meinung nach umweltfreundlichsten und billigsten Energie: Gas. Was durchaus damit zu tun hatte, dass er ein monatliches Deputat bekam, sein Arbeitgeber versorgte ihn kostenlos mit dem sauberen Stoff – auch als Ausgleich dafür, dass er zeitweise den schmutzigen Job eines Sperrkassierers übernahm.
Er klemmte säumigen Kunden den Strom ab, wenn sie die Rechnung nicht bezahlt hatten. Und das waren besonders die Besitzer namhafter Lokalitäten in der Stadt. Mein Vater kannte sie alle. Wenn ein Chinese Wett- oder ein Italiener Schutzgeldschulden hatte, die Stromrechnung bezahlten sie immer zuletzt. Dabei hatte er für alle widrigen Lebenslagen Verständnis und stundete oft genug die Rückstände über die fällige Frist hinaus, ohne jemals eine Gegenleistung zu fordern. Nein, korrupt war er nicht, dafür war er zu ehrpusselig.
Mein Vater zog seinen Gewinn aus den irren Geschichten, die ihm so zuflogen. Er erzählte gern am Abendbrottisch davon, wie ihn wieder einmal eine der klammen Puffmuttern zu einem schnellen Hüpperken eingeladen hatte, um die Stromabklemmung zu verhindern. Wobei ich mir heute nicht mehr sicher bin, ob er tatsächlich alle schlüpfrigen Angebote der von ihm prächtig beschriebenen schillernden Halbweltdamen abgelehnt hat.
Am meisten lachte er aber immer über die „Minutenlichtleute“, wie er sie nannte. Wenn Pfennigfuchser zu sparen glaubten, indem sie das Hausflurlicht nicht einschalteten und im Dunkeln durchs Treppenhaus stolperten. „Alles Diebe, Christen und Ostler!“ Weil dreiste Diebe das Licht scheuten, für geizige Christen Verschwendung eine Todsünde war und ängstliche Ostler ihren Stasi-Nachbarn verbergen wollten, wann, wie und mit wem sie heimkamen.
Sechs Pfennige im Jahr kostete damals im Schnitt ein Minutenlicht jeden Hausbewohner. Zugleich verschwendeten all diese Sparfüchse aber enorm viel Strom mit ihren aufgemotzten Wasch-, Spül- und Fernsehmaschinen. An der Stelle schlug sich mein Vater jedes Mal mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Im Hausflur betätigte ich jetzt den Lichtschalter. Mit den hell erklingenden Worten „Im Namen des Vaters, des Sohnes und der heiligen Ghostbusters“ bannte ich die drei ertappten Durchs-Haus-Geister.
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