Die Wahrheit: Das entzweite Land. Ein Weckruf
Shitstorm in den sozialen Medien? Früher lief es anders, aber auch alles andere als menschenfreundlich oder gar wertschätzend.
S agen wir, wie es ist: Die Gesellschaft ist zutiefst gespalten. Aus Gegnern wurden Feinde. Aus demokratischem Diskurs wurde ideologischer Stellungskrieg. Aus Meinungsdifferenz Hass.
Was waren das doch für Zeiten, als man hierzulande noch gesittet diskutierte? Wich man in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern von der Norm ab, wurde einem nicht etwa wie heute das Existenzrecht abgesprochen, sondern man bekam lediglich einen Umzug vorgeschlagen: „Geh doch nach drüben!“, hieß es da freundlich und fürsorglich. Diese Relokalisierungsanregung wurde oft mit einer beeindruckend hilfsbereiten Verve vorgetragen; man spürte, dass die den Vorschlag machende Person am Umzugstag mit anpacken oder vielleicht sogar den Möbelwagen bezahlen würde. Hallo Partner – danke schön! So war das damals.
Besonders Langhaarige, später Punks, aber auch Homosexuelle und behinderte Menschen genossen die Vorzüge einer toleranten Gesellschaft, in denen ihnen niemand vorschrieb, wie oder was sie zu sein hatten. Statt Bevormundung hörten sie sachliche Feststellungen: „So was hätte es unter Hitler nicht gegeben“, oder: „Dich hamse vergessen zu vergasen.“ Bemerkungen, in denen die Freude darüber zum Ausdruck gebracht wurde, dass diese dunklen Zeiten vorbei waren und nun endlich Vielfalt herrschte.
Es überrascht deswegen nicht, dass auch die politische Elite jener Jahre zwar inhaltlich hart, aber im Ton stets verbindlich um den besseren Weg rang. So war zum Beispiel der CSU-Politiker Franz Josef Strauß ein Meister der Deeskalation: Nie beleidigte er seine Gegner, sondern erfreute sie gern mit putzigen Tiervergleichen. Ob er nun linke Intellektuelle als „Ratten und Schmeißfliegen“ oder einen Schriftsteller als „Dreckschwein“ bezeichnete – stets wies er seinen Kritikern damit eine wichtige Rolle im Ökosystem zu.
Maximale Komplimente
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus: So nannte Herbert Wehner von der SPD Strauß mal einen „geistigen Terroristen“. Selbstverständlich war das von Wehner, der seine politische Laufbahn bei der „Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“ begonnen hatte, als Maximal-Kompliment gemeint.
Willy Brandt (SPD) wurde von CDU-Mitgliedern immer wieder bei seinem Geburtsnamen „Herbert Frahm“ genannt, womit sie ihm Respekt für seine widerständische Haltung während der Nazizeit zollten. Brandt bedankte sich für diese Geste der Hochachtung, indem er den damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler live im Fernsehen lobte: „Ein Hetzer ist er, seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land.“ Er verglich Geißler also mit einem der erfolgreichsten Männer der PR-Geschichte. Tiefer kann eine professionelle Verbeugung nicht sein.
Klar ist: Wir waren schon einmal weiter. Dorthin müssen wir zurück. Zu dieser Kultur der wertschätzenden Debatte, der gegenseitigen Anerkennung. Reichen wir uns die Hände!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja