Die Wahrheit: Jugend am Abgrund
Im Hintergrund spielt Beat-Musik. Um einen Schaukelstuhl herum sitzt eine Gruppe Jugendlicher und verhandelt den Fall Tartiner.
A ls Jugendlicher näherte ich mich eines Winternachmittags dem Eingang eines großen alten Gebäudes. Außer mir waren zahlreiche weitere junge Menschen dorthin unterwegs. Alle waren in gehobener Stimmung. Unweit des Eingangs bewarfen etwa ein Dutzend von ihnen einander lachend und schreiend mit Schneebällen. Von drinnen war die Musik einer Beat-Gruppe zu hören.
Umgeben von erwartungsfrohen Gleichaltrigen kam ich in dem geheizten Veranstaltungssaal an. Die meisten hängten nach dem Bezahlen des Eintrittsgelds ihre Mäntel und Jacken an der Garderobe auf und eilten zur Tanzfläche. Mein Ziel war der Bereich mit den Sitzgelegenheiten, wo schon einige Jugendliche beisammensaßen und schwatzten. Zwei der Jungen waren Bekannte von mir. Ich setzte mich auf einen freien Sessel und hörte zu. Thema der Unterhaltung war die Frage, was „damals mit Tartiner geschehen“ sein mochte.
Tartiner war einer der Anwesenden, ein junger Mann, der offenbar aus „guten Verhältnissen“ stammte. Über das mit ihm Geschehene kursierten Gerüchte. Einer der beiden, die ich kannte, sah Tartiner grinsend an, beugte sich auf seinem Schaukelstuhl nach vorn und ließ sich dann gegen die Lehne zurückfallen. Das wiederholte er mehrmals. Jemand sagte etwas, doch ich konnte es nicht verstehen, weil ein neben mir sitzendes Mädchen laut über den Schaukelnden lachte.
Mit ernster Miene widersprach Tartiner: „So war das nicht.“ – „Wie dann?“, forschte der Schaukler. Tartiner gab zur Antwort: „Sie waren getuscht. Figuren ohne Hals.“ – „Aha“, ließ sich der hören, dessen Worte im Lachen des Mädchens untergegangen waren, „das heißt also, sie waren …“
Lautstarker Applaus auf der Tanzfläche ließ mich wieder kein Wort verstehen. Als es endlich ruhiger wurde, sprach Tartiner von „Zellen“. Mir war nicht klar, welcherart Zellen gemeint waren, solche im Sinne von „kleinste lebendige Einheit und Grundbaustein aller Lebewesen“ oder „kleiner, schmuckloser Raum, dessen Einrichtung auf das Notwendigste beschränkt ist“. Ich mochte mich aber nicht unnötig exponieren, indem ich nachfragte. Das Mädchen neben mir wollte wissen: „Wie sahen die denn aus?“ – „Schlimm“, antwortete Tartiner leise. Ihm war anzusehen, dass er unter der Erinnerung litt.
Niemand sprach mehr etwas, sogar die Musik hörte auf. Im Saal war es totenstill. Umherblickend stellte ich fest, dass mich alle Anwesenden anstarrten. „Was ist?“, wollte ich rufen, doch es kam nur Mondlicht heraus. Weil ich es nicht länger ertrug, verließ ich fluchtartig meinen Platz.
Ich holte meinen Mantel und wollte hinauslaufen. Die Frau an der Garderobe rief mir nach: „Wo willst du denn übernachten?“ – „In Tartiners Sterbezimmer.“ – „Wie gelingt es dir nur, da zu schlafen?“, wunderte sich die Frau. „Und wovon willst du dich ernähren?“ – „Meine lebenden Freunde bringen mir Schlafmittel und Kuchen.“ Dann ging ich. Draußen schneite es.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!