Die Wahrheit: „Wir wollen uns nützlich fühlen“
Exklusiv in der taz: der offene Brief von Baldbundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an die gesamtdeutsche Nation hier und jetzt und in Gesamtlänge.
Es regt sich Protest gegen die rot-grün-gelben Koalitionsgespräche. Während die Coronazahlen explodieren, Krankenhäuser überlastet und im Supermarkt die Nudelregale schon wieder komplett leer geräumt sind, schieben die zukünftigen Koalitionäre seelenruhig Pöstchen hin und her – so der Vorwurf. An diesem Wochenende tritt zum ersten Mal Baldkanzler Olaf Scholz mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit.
Liebe Wählerinnen und Wähler,
liebe Deutsche!
Um es mal mit einem Hamburger Sprichwort zu sagen: „Kräht der Butt auf dem Schott, kielt der Smutje immerfott“! Ich habe Verständnis für viele, die jetzt sagen: Olaf Scholz, das ist nicht mein Kanzler, ich habe ihn nicht gewählt. Diese Leute haben ein Recht, das zu sagen, so wie ich das Recht habe, diese Leute dafür von der Polizei vermöbeln zu lassen. Das ist noch lange keine Polizeigewalt, das ist einfach Erfahrungswissen. Und sie haben ja sogar doppelt recht: Ich bin ja wirklich noch gar nicht Kanzler. Frau Merkel dagegen ist weiterhin im Amt, während das Virus tobt. Sie unternimmt gar nichts, bereitet sich auf den Ruhestand vor, probiert in Kabinettsitzungen Hüte aus. Ich weiß es, ich sitze ja neben ihr, als Vizekanzler. Aber wenn man im Minutentakt Sprachis von Robert Habeck beantworten muss, bleibt für die aktuelle Lage nur so wenig Zeit.
In der jetzigen Situation ist es ganz besonders wichtig, von einseitigen Schuldzuweisungen abzusehen. Die derzeitigen Koalitionsverhandlungen sind schwierig. Wir haben einen Partner am Tisch sitzen, der die bürgerlichen Interessen ganz besonders stark vertritt, der maximale Freiheiten für Unternehmen möchte und überall Gefahren für den Wohlstand der eigenen Klientel wittert – ganz ehrlich, wenn ich könnte, würde ich die Grünen sofort wieder rauswerfen! Aber auch die FDP macht mir Sorgen: Christian Lindner erreicht man nur mehr, wenn man seine Instagram-Storys kommentiert, dieselben Filter wie er verwendet. Ein gutes, produktives Gesprächsklima sieht leider ganz anders aus.
Am 11. 11. habe ich auf einer Faschingsrede auf die Gefahren hingewiesen, die von dem neuartigen Coronavirus ausgehen könnten, und der Öffentlichkeit den Vorschlag unterbreitet, Deutschland müsse „gewissermaßen winterfest“ gemacht werden. Außenbeleuchtung, Motorölstand, Scheibenwischer, die ganze Kiste. Ist in den Beatmungsgeräten noch genug Luft, halten Pflegerinnen und Pfleger auch zweistelligen Minusgraden stand? Heute, mehr als eine Woche und Hunderte Tote später, möchte ich meine Forderung verschärfen: Es muss ein Winter-Check durch Deutschland gehen! Deutschland muss jetzt zu einem Fachhändler gebracht werden, und eine Person mit einem kleinen Staubsauger muss jetzt auch in den Innenraum und die ganzen Burger-Brösel aus den Miefrillen rausholen. Da dürfen wir uns nicht zu fein sein, Herr Habeck!
Wenn ich den Stand der aktuellen Gespräche erklären und begründen muss, warum das alles so lange dauert, möchte ich auf ein altes Gleichnis zurückkommen. Eine Ziege, ein Wolf und ein Kürbis wollen über einen Fluss. Der Fluss heißt Triell, wie die Stadt. Aber das einzige mögliche „Boot“ ist ein Frosch, auf dem zwei Skorpione sitzen, als Bootsleute. Der Frosch sagt blubbernd: Einer der beiden Skorpione sagt immer die Wahrheit, der andere lügt nie. Wie viele Beine habe ich am Abend? In diesem Gleichnis bin ich gewissermaßen der Frosch, den zwei lügende Skorpione tagein, tagaus mit ihren mörderischen Stacheln peinigen, piks-piks-piks, während sie ihr Gift in alle Richtungen verspritzen. In so einer Situation ist es schwer, sicher übers Meer zu kommen, das weiß jede Hamburgerin und jeder Hamburger.
Und mal ehrlich – wir alle sind nur Menschen, wir alle wollen uns nützlich fühlen. Ich finde es falsch, jetzt von „Pöstchengeschacher“ zu sprechen. Wenn Sie mal darüber nachdenken, wie schwer es ist, Toni Hofreiter einen Ministerposten auf den Leib zu schneidern, der seinem einzigartigen Bedürfnisprofil entspricht, gewinnen Sie eine Ahnung davon, wie schwer solche Verhandlungen im Detail sind. Es ist wie in einem dieser grauenhaften Assessment-Center, in die wir die ganzen Prolos seit Hartz IV immer schicken – wo, glauben Sie, liegt Ihre größte Stärke, und warum ist es Ungeduld? Dann ist da Annalena Baerbock, die immer noch der Ansicht ist, sie müsste ebenfalls ins Kabinett – ihr das nach dem verkorksten Wahlkampf auszureden, ist, glaube ich, der schwerste Teil der Verhandlungen. Ich meine, wer ist die Frau überhaupt, was stimmt denn in ihrem Lebenslauf? Ist Annalena überhaupt ihr richtiger Name? Hier müssen wir gerade als SPD genauer hinsehen, da sind sich Franziska Giffey und ich einig.
Stichwort Pöstchengeschacher: Das Chaos in der FDP können Sie sich gar nicht vorstellen! Da hatte ja niemand ernsthaft damit gerechnet, auf Jahrzehnte hin je wieder an die Macht zu kommen, ohne Zusammenarbeit mit der AfD! Dementsprechend ist alles auf die Person von Christian Lindner zugeschnitten, ansonsten haben sie da ja nur so C-Personal. Die denken sogar darüber nach, die in Alkohol eingelegte Leiche von Wolfgang Kubicki zu reanimieren, um überhaupt wieder Gesichter zu haben. Und auch, wenn mir Kritik an der eigenen Partei schwerfällt: Die SPD macht es einem auch nicht leicht. Wissen Sie eigentlich, wie viele alte Schröderianer darauf warten, von mir wieder in Amt und Würden gebracht zu werden? Ich habe hier ein Gesuch von Brigitte Zypries auf dem Tisch, ich weiß gar nicht mehr richtig, wer das ist.
Die Verteilung der Ressorts ist ebenfalls nicht so leicht. Landwirtschaft und Wirtschaft gehen natürlich an die FDP, Ackerbau und Ökonomie an die Grünen. Für Verkehr ist interessanterweise Andreas Scheuer zuständig, den wir anscheinend aus dem alten Mietvertrag übernehmen müssen. Das Finanzressort darf von keiner Person mit wirtschaftlichen Eigeninteressen besetzt werden und sollte daher möglichst vakant bleiben. Gesundheit sollte irgendwer aus der Spahn-WG machen, also wahrscheinlich wieder ein FDPler. Bleiben noch Familie, Freizeit und Krieg – können wir von mir aus gerne in einem Superministerium zusammenfassen, Weihnachten steht schließlich vor der Tür.
Liebe Wählerinnen und Wähler, Sie sehen, es ist nicht leicht. Wir haben Ihnen versprochen, nur mit einem komplett winterfesten Kabinett in die Regierungsverantwortung zu gehen, und dabei bleiben wir. Wenn die Regierungsbildung dann erst nach dem Winter stattfindet, haben wir unser Versprechen eben auf eine etwas ungewöhnliche Weise eingelöst.
Herzlichst,
Ihr Olaf Scholz
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