Die Wahrheit: Dies ist keine Sexkolumne
Es geht vielmehr um Perversionen, Polyamorie, Fetischpartys, sexpositiven Feminismus, Räume für Gefühlssituationen. Und ähnliches…
L ass uns nicht mehr über Sex schreiben. Wir wissen ja gar nicht mehr, wie das gehen soll. Eine Kolumne über Sex, das will heutzutage einfach niemand mehr lesen. Erst recht nicht, wenn sie von einem Mann geschrieben wird.
Sex ist auch einfach nicht mehr das große Ding heutzutage. Nicht mehr das, was er für die Kinder der Revolution von 1968 und folgende noch gewesen war. Zumindest in den Zeiten vor Aids. Sicher, es gibt immer wieder neue Versuche: unendliche Diversifizierungen, weithin erlaubte, mithin etablierte Perversionen, Polyamorie, Fetischpartys, sexpositiven Feminismus, you name it. Räume für Gefühlssituationen. Sex mit Einverständnis, Sex nach Regeln, Sex mit und nach Vertrag. Statt Libertinage interessiert Anpassung, statt Experimente am und mit dem eigenen Körper und den Körpern der anderen ist soziale und gesundheitliche Sicherheit das Wichtigste geworden. Der neoliberale Druck ist zu hoch.
„Diese Auflösung der sexuellen Spannung in eine Verhandlungs- und ‚Ich-finde-dich-toll-wie-du-bist‘-Sexualität ist es aber eben“, so schreibt die neueste George-Bataille-Forschung, die vom Werk des großen Obszönen ausgehend nach der Erotik des im 21. Jahrhundert bislang vergeblich fahndet, „die von großen Teilen der führenden Sexualwissenschaft als Grund für eine entdramatisierte und damit in weiten Teilen ‚ent-zauberte‘ Sexualität angegeben wird.“ René Pollesch hatte recht, als er ein Stück zum Thema genau so benannte: „I love you, but I’ve chosen Entdramatisierung“.
Das sind so Thesen. Stelle aber auch an mir fest, dass ich eines fortgeschrittenen Tages nicht mehr länger auf Barhockern sitzen und im Namen der Liebe Selbstvergiftungen unternehmen wollte, die oft nicht mehr brachten als immer länger werdende Phasen der Regeneration.
Und darüber schreiben? Das führt nur zu Missverständnissen. Es fühlen sich Leute angesprochen, die gar nicht gemeint sind, und es werden Rückschlüsse gezogen auf Privatangelegenheiten, die niemanden etwas angehen. Das Private ist politisch? Stimmt nicht, das Private ist Privatsache. Und über allem schwebt dieser grausame Verdacht des Sexismus, weil Begehren ohne Objekt und Objektivierung leider ein bisschen schwierig ist.
Ich frage mich auch, was mit meiner Libido ist. Wo ist sie eigentlich geblieben? Gut, man könnte noch über Selbstliebe schreiben, im körperlichen Sinn also über Autoerotik. Oder ist das wiederum zu ausschließend? Ein Tinderdate mit mir selbst, bei dem ich um die Bars herumschleiche, damit niemand merkt, dass ich ein Tinderdate habe, auch wenn es nur mit mir selbst ist. Ja, ich habe mich gelikt, ich habe mich nach, äh, rechts gewischt, warum denn nicht! Selbstliebe wird doch überall propagiert! Wir leben in einer narzisstischen Gesellschaft!
Oder man schreibt gleich eine Kinderkolumne. Das lesen die Leute gern. Eine Kinderkolumne ohne Kinder, das wäre was.
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