Die Wahrheit: Die schweizerischste aller Schweizen
Das Gebilde zwischen Deutschland und Italien wäre vermutlich ein gewaltiger Flächenstaat in der Mitte des Kontinents, wenn man es glättete.
G egenstand der folgenden Zeilen ist die Schweiz. Wer sich nicht für die Schweiz interessiert, kann, sofern er dieses Blatt, wie es sich gehört, lesepraktisch von hinten aufrollt, gern sofort damit anfangen, ohne die Hürde dieser Zeilen über die Schweiz nehmen zu müssen. Wobei die Schweiz selbst wie ein zerklüftetes und gewundenes Hindernis in der Landschaft liegt, sobald man von Deutschland nach Italien will.
Zugegeben. Es wäre, wollte man es darauf anlegen und die Schweiz partout vermeiden, wofür es gute Gründe gibt, auch eine Zangenbewegung um die Schweiz herum nach Italien hinein denkbar, etwa über Frankreich oder Slowenien nach Italien hinein – wobei letztere Strecke über Österreich führt, und das ist nicht Gegenstand dieser Zeilen. Die Schweiz also. Einfach, weil sie da ist.
Was vielleicht ein schönerer Slogan wäre als das einsilbige „Rock!“, „Fun!“, „Tell!“, wie es von touristischen Plakaten entlang der Autobahnen bellt – je nachdem, ob die Landschaft felsig ist, fröhlich oder historisch. Es gibt auch gar keine Landschaft. Beispielsweise bei Basel, durch das der Reisende sanft auf betonierten Stelzen gelenkt wird, um aus erhöhter Warte einen Blick auf die chemieindustriellen Verheerungen dort werfen zu dürfen. Hier ist es, als wollte die Schweiz den nördlichen Nachbarn bedeuten: „Seht her, auch ich kann Ruhrpott!“
Der Stelzen, Tunnels und erhöhten Warten ist dann im Folgenden, wenn die Landschaft beginnt, kein Ende mehr. Die Schweiz ist sehr gut darin, Besucher abführmittelgleich durch sich hindurchzuleiten. Es sei denn, die suchen nach „Rock!“ oder „Fun!“. Hin und wieder bimmelt eine Kuhglocke: „Cow!“
Topografisch ist die Schweiz von irritierender Zerknüllung. Könnte man sie glattstreichen wie Papier, wäre sie vermutlich ein gewaltiger Flächenstaat in der Mitte des Kontinents, bevölkert von glücklichen Menschen in schönen Maseratis. Sogar die Bauarbeiter sehen aus, als wären sie Akademiker, als könnte man sich bei Stau aus dem Fenster beugen und ihren Gesprächen über Peter Bichsel lauschen.
Lauschen kann man auch der kehligen Fröhlichkeit und babylonischen Sprachverwirrung, mit der im Radio die Schweiz ihre moralische Verkommenheit bedenkt. Ihre „großen Staatsbanken“ scheitern im internationalen Finanzgeschäft, ihren Asylsachbearbeiterinnen werden „von anonym“ die Bremskabel an ihren Maseratis durchgeschnitten. Und Lausanne impft nun schon 18-Jährige. Wir erkunden hier ein fremdes Land, das in krassem Gegensatz zu Deutschland steht.
Unter dem Granit des Gotthard lässt der terrestrische Empfang zu wünschen übrig, auf der südlichen Seite wartet mit seinen Palmen der Lago Maggiore. Warum nicht gleich so? Gleich hinter Weil am Rhein? Weil Afrika einst gegen Europa gestoßen ist und damit allerlei Unheil angerichtet hat. Einfach, weil sie da ist.
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