Die Wahrheit: Früher war alles schärfer
Wir wollen nicht gleich nostalgisch werden, aber wenn Berufe aussterben, sterben auch entsprechende, nun, Originale aus.
A ch, wie schön! Die Scherenschleifer sind da, dachte ich, als sie beim Nachbarn hielten und Sturm klingelten. Scherenschleifer kannte ich noch aus meiner Erinnerung, weil ich mich an die Geschichten erinnerte, die mir meine Oma über diese bereits zu ihren Lebzeiten längst rar gewordene Zunft zu erzählen wusste. Eine ziemlich bunte Truppe war das damals.
Der eine, Bernie, hörte immer so etwas wie Rap-Musik, während er die Klingen zum Blitzen brachte. „Schnipp-Hop“, wie er mit einem Zwinkern zu sagen pflegte, das er nicht mehr wegbekam, seit die anderen ihn für seine Wortwitze zünftig zugerichtet hatten.
Diese Musik hatte er in Amerika aufgeschnappt, wohin es ihn nach einer zerbrochenen Ehe verschlagen hatte. Auch in den Vereinigten Staaten hatte er sich als Scherenschleifer durchgeschlagen, damals aber noch für Linkshänder- und Bastelscheren. Andere Zeiten waren das, sagte er wehmütig, wenn er irgendwo ein ausgefranstes Zickzackmuster zu Gesicht bekam.
Ein zweiter, Kurt, ein Bär von einem Mann und wohl auch ein Mann von einem Bär – denn auch wenn Homosexualität damals noch nicht offen ausgelebt werden konnte, erkannte meine Oma doch die Zeichen –, betrachtete am liebsten kundig die Oberarme sämtlicher Jungen, wobei er jedes Mal zu dem selben Schluss kam: „Burschi, da musst du aber noch ne Menge Mettwurstbrote mehr essen.“
Hermann nahm's nicht krumm
„Diese, Jenische, Welsche“, sagte mein Großvater immer zu ihnen, wenn sie unser Grundstück betraten und ihre Fäuste notgedrungen auch mit unserem Wachhund Hermann Kontakt aufnahmen, um zu unserer Haustür zu gelangen. Hermann nahm ihnen das aber nicht krumm.
Vermutlich nannte Großvater sie so, weil die Worte „Sinti“ und „Roma“ ihm seinerzeit nicht über die Lippen kamen, schließlich sagte er sowieso meistens „Zigeuner“ oder „Lumpenpack“, was sich die drei Scherenschleifer, die eigentlich aus dem Ruhrgebiet stammten, ungerührt gefallen ließen, denn schließlich war auch damals schon der Kunde König.
Heute würde mein Großvater solche unpassenden Ausdrücke nicht mehr in den Mund nehmen, was vor allem seinem Verscheiden im Jahr 1993 zu verdanken ist, Gott oder wer auch immer hab ihn selig.
Helmi mit Roth-Händle
Am liebsten von den drei Scherenschleifern mochte ich aber Fredi Helmstedt, genannt Helmi. Der brachte meiner Oma nämlich immer die guten Roth-Händle ohne Filter mit, die sie damals so intensiv rauchte, dass es aus ihr nur so qualmte.
Ach, ich hätte noch stundenlang in den Erinnerungen an die Erinnerungen schwelgen können. Doch das Klappern der wieder abziehenden Scherenschleifer riss mich aus meinem Tagtraum. Und als ich aus dem Fenster sah, kam die ernüchternde Erkenntnis: Moment mal! Scherenschleifer, dieses Handwerk gibt es doch gar nicht mehr! Und ich hatte recht. Die Leute, die ich gesehen hatte, waren bloß Kesselflicker.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag