Die Wahrheit: Hannoversche Quarantäneforschungen
S eit Beginn der Coronakrise mache ich täglich eine Fahrradtour durch Hannover. Erstens drohe ich extrem aufzumopsen, mein Körper verlangt also nach körperlicher Betätigung, und zweitens wohne ich zwar seit elf Jahren in der niedersächsischen Landeshauptstadt, dennoch sind mir weite Teile der Stadt immer noch so fremd wie die russische Tundra oder die Liebe der Deutschen zum Spargel, dem einzigen Gemüse, dem es im gekochten Zustand gelingt, gleichzeitig matschig und faserig zu sein. Anderes Thema …
Meine Hannover-Expeditionen stehen in der Tradition der Forschungsreisen von Charles Darwin, Alexander von Humboldt und Fridtjof Nansen. Als Forschungsreisender ist es wichtig, den Forschungsobjekten unvoreingenommen zu begegnen und immer bereit zu sein, Neues in die Beobachtungsliste aufzunehmen. Um Letzteres zu forcieren, besitze ich erst gar keine Liste. Meist fahre ich einfach blind los, und erst wenn ich komplett die Orientierung verloren habe, bemühe ich Google Maps.
Wichtig ist bei solchen Expeditionen auch die Ausrüstung. Ich habe immer eine Wasserflasche dabei, Studentenfutter, einen Apfel, mein Schweizer Offiziersmesser, und – ein bisschen Spaß muss sein – ich trage einen Tropenhelm, den mein Freund Tim als Jugendlicher im Kostümfundus des Thalia Theaters in Hamburg hat mitgehen lassen. Auf der Bühne des Thalias schmückte der Helm den Kopf von Ulrich Pleitgen. Im Theater gibt es ja immer kleine Namensschildchen in den Kostümen. Noch vor wenigen Wochen wär ich mit dieser Kopfbedeckung sofort aufgefallen, jetzt aber, da die Menschen eigenwilligste Gesichtsmasken tragen, scheint sich niemand mehr für exzentrische Helme zu interessieren.
Ich stand auf meinen Touren bereits am Gedenkstein für die von Fritz Haarmann ermordeten jungen Männer, am Geburtshaus Hannah Arendts, an öden Nazi-Löwen, die zu meiner Überraschung Hitlers Darling Arno Breker himself an den Maschsee modelliert hat, und an einem Tor mit dem Schild „Hannoverscher Yacht Club“, bei dem ich sehr lachen musste. Yachten für einen Karpfenteich.
Die ehemalige Adresse von Veronica Ferres’ Toyboy Carsten Maschmeyer fuhr ich gezielt an, musste jedoch feststellen, dass seine geschmacklose Protzvilla inzwischen abgerissen wurde. Ich wollte sie sehen, weil die Lokalpresse einst schrieb, die Villa sehe aus, „als ob ein Versicherungsvertreter zu Geld gekommen ist und es nun mal allen zeigen will“. Ich dachte damals: Was heißt hier „als ob“.
Morgen fahre ich – ausnahmsweise geplant – sozialdemokratische Weihestätten ab: das Haus, in dem Kurt Schumacher die SPD neu gründete, das Gymnasium, an dem Stephan Weil Abitur machte, und die Gaststätte Plümecke, in der Gerhard Schröder angeblich öfter bei einer Currywurst entspannte, wenn es bei seiner damaligen Frau Hiltrud wieder mal nur Tofuschnitzel gab. Brüder, zur Sonne, zur Freizeit!
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