Die Wahrheit: Ergründer des Ungefähren

Mathias Broeckers, Wahrheit-Redakteur der ersten Stunde, geht in den Ruhestand. Eine persönliche Würdigung mit quasi offiziellem Gütesiegel.

ein Mann sitzt auf einer Treppe

Pausenzichte mit Zeitung: Mathias Broeckers Foto: Christian Jungeblodt

Mathias Broeckers und Annette Cornelia Eckert waren meine ersten Bezugspersonen in der taz, sie betrieben die überregionale Kulturredaktion. Wenig später hatte ich vor allem mit Mathias zu tun – als sein oberhessischer „Vogelsberg-Korrespondent“.

Hin und wieder dachten wir uns Fake-Geschichten oder -Interviews aus. Diese wurden jedoch immer häufiger kritisiert. Zwar veröffentlichten auch andere Redaktionen gelegentlich Fake-Interviews (zum Beispiel mit Atomstrommastenabsägern), aber das geschah aus politischer Notwendigkeit und nicht aus der Überzeugung, dass man die Wahrheit halluzinieren kann – oder gar muss, wie der März-Verleger Jörg Schröder uns im Vogelsberg sozusagen einhämmerte. Witzigerweise bekam Broeckers 1985 gerade dort, in Lauterbach, die „Benno-Martiny-Medaille für sauberen Journalismus“ in Bronze verliehen.

Er frühstückte oft mit dem Kabarettisten Wolfgang Neuss im Charlottenburger Café Möhring, notierte sich tagesaktuelle Schlagzeilenergänzungen und kaufte ihm taz-Kolumnen ab. Schließlich hieß es taz-intern: „Fakes ja!“, aber auf einer Extraseite mit eigener Redaktion. Daraufhin gründete Broeckers mit dem Kollegen Karl Wegmann die Wahrheit-Seite – mit quasi offiziellem Satiresiegel. In der taz wurden damals oft Seiten ge- und begründet, andere gingen ein: die Kinder- und die Justiz-Redaktion beispielsweise. Beides war quasi dem Zeitgeist geschuldet, und der weht vordergründig, wohin er will. Ein typisches Tendenzbetriebsproblem.

Die aus der antiautoritären Bewegung entstandene taz war zunächst wie jene von „harten Ideologien“ (Antikapitalismus, Klassenkampf, Nationale Befreiungskämpfe) befeuert – analog zum „Stahlinismus“ der vorgeblich „bleiernen“ Nachkriegszeit. Mit Computerisierung und Neoliberalismus setzten sich langsam „weiche Ideologien“ (Menschenrechte, Veganismus und Emos) durch. Und das Proletariat fand sich nach Deng Xiaopings Diktum „Bereichert euch!“ in China wieder.

Schwäche für schnelle Autos

Broeckers hatte an der FU Literatur und Politik studiert und dann mit Freunden die erste Genossenschaft nach dem Krieg gegründet: die Kreuzberger Taxi-Genossenschaft. Daher erklärt sich vielleicht eine gewisse Schwäche für schnelle Autos; der er als Kultur- und Wahrheit-Redakteur mit „taz-Einheitslohn“ und Kleinfamilie natürlich nicht nachgeben konnte. Inzwischen ist er als Single auf E-Bike umgestiegen.

„Entnervt von den ständigen Grabenkämpfen“, wie Kollege Wegmann einmal in einem Jubiläumsartikel zur Geschichte der Wahrheit schrieb, kündigte er und gab ein Lehr- und Geschichtsbuch über Hanf heraus. Nach der 38. Auflage konnte er mit Freunden das „Hanfhaus“ gründen – mit Franchising­system für Hanfläden. Das Unternehmen ging pleite, weil man angeblich bei griechischen Lieferanten von Hanfsachen winzige Mengen THC festgestellt und die Ware konfisziert hatte. So ungefähr.

Dann erfuhr ich, dass er und seine Frau, Rita, die ihn – wenn nötig – zur Radikalität und Eindeutigkeit drängte, sich getrennt hatten und dass ihre zwei Kinder nun erwachsen und auf einem guten Weg seien. Ferner, dass er und der Comiczeichner Gerhard Seyfried, mit dem er das Buch „Hanf im Glück“ veröffentlichte, in die Schweiz gezogen wären. Wovon sie in dem teuren Land lebten, war uns schleierhaft.

Auf alle Fälle traf sich Broeckers oft mit dem Schweizer LSD-Erfinder Albert Hofmann. Zu dessen 100. Geburtstag veröffentlichte er auch ein Buch. Zuvor hatte er bereits ein Werk über die klassischen „Haschisch-Esser“ bevorwortet und eins über Absinth mit herausgegeben. Als er mit einem Kofferraum voller Exemplare seines Buches „Die Drogenlüge“ an der Schweizer Grenze durchsucht wurde, machte das die deutschen Beamten neugierig, sie fanden auch tatsächlich ein Stück Haschisch, nur ein paar Gramm, aber Broeckers verlor trotzdem für einige Zeit seine Fahrerlaubnis.

Vielleicht war es in dieser Zeit, dass er sich als Medien-Aficionado mit dem Internet anfreundete, heraus kam dabei ein Buch über den Elftenseptember, dessen Quellen fast ausschließlich aus Internetforen und -blogs bestanden, man könnte von einer E-Recherche als Book sprechen. Heute ist das üblich, aber damals war es etwas Neues. Das Buch wurde jedenfalls „in hohen Auflagen“ verkauft, wie der Autor das Wikipedia-Eintrags säuerlich anmerkt.

Die Nutzung der Webpages über Nineeleven bedeutete implizit, dass die staatsttragenden Intelligenzblätter (der „Holzjournalismus“) keine Diskussion über das World-Trade-Center-Attentat wollten. Erst recht galt das für die Aufklärung des „Kennedy-Mordes“, worüber er dann ebenfalls ein Buch schrieb, diesmal gestützt vor allem auf Veröffentlichungen von sozusagen offiziellen US-Autoren. Langsam glaubte man, ihn gut und gern als „Verschwörungstheoretiker“ abtun zu können, zumal er auch noch das „Lexikon der Verschwörungstheorien“ von Robert Anton Wilson übersetzt und mit Beispielen aus dem deutschen Verschwörungsraum ergänzt hatte.

Verschwörungstheorien im Überblick

Als Broeckers dann auch noch ein Buch über den „Fall Ken Jebsen“ schrieb und ein weiteres, in dem er als „Putinversteher“ auftrat, war der Fall klar. Um aber wenigstens diejenigen seiner Follower, die sich als Klimaleugner aufdrängten, abzuschütteln, stürzte der „Bestsellerautor“ (so sein Verlag Westend) sich in die Naturwissenschaft, die er bis dahin eher an ihren ketzerischen Rändern wahrgenommen hatte.

Nun ging es ihm um die unterschiedlichen Lichttheorien von Newton und Goethe. Weil sich darüber auch Philosophen der Humboldt-Universität Gedanken machten, musste das Ergebnis einigermaßen stimmen – es hieß dann 2019 im Titel „Newtons Gespenst und Goethes Polaroid“. Dem folgt nun eins über den „Klimawandel“ – mit dem Untertitel „Vom Ende des Kaputtalismus und der Zuvielisation“.

Ich vergaß zu erwähnen, dass Broeckers seit vielen Jahren wieder für den taz-Verlag arbeitet. Er war auf verschiedene Weise am Aufbau des sogenannten ­Internetauftritts der taz beteiligt, woraus eine ganze Abteilung entstand. Er hat sich in der taz irgendwie auf ihre Internetvermarktung konzentriert oder jedenfalls nimmt er an der montäglichen „Marketing­runde“ teil. Mit zunehmendem Alter lässt ihn das Geschäftliche immer weniger kalt. Daneben ist er noch „Blogwart“ – für die taz-blogs.

Wenn wir uns „beim Italiener“ in der Reichenberger, also in Kreuzberg, treffen, reden wir meist in der „Ungenauigkeit“ – nicht als Annäherung an eine immer größere Genauigkeit, sondern als genau der Ort des Durchgangs zu dem, was geschieht. Und das ist vermutlich der Ort, an den sich Mathias Broeckers auch in seinem Ruhestand begeben wird.

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kari

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