Die Wahrheit: Die Influencer-Influenza
Ein neuartiger Erreger bedroht die Welt der Netzstars. Erstmals geht ein Virus viral und springt vom Bildschirm auf Menschen über.
Lilly Dee schnieft und hustet elendig in die Kamera hinein. Ihre sonst vom Rouge stets leuchtenden Wangen schimmern nur noch fahlgelb wie altersschwache Straßenlaternen im Winternebel. „Hallo Leute, ich bin heute hotsane, ich hab’s jetzt auch, ich muss ins Bett, see you“, verabschiedet sich die Influencerin fiebrig von ihren Abonnenten auf YouTube. Der Bildschirm wird schwarz. Lilly Dee ist krank. Sie hat das Virus. Das Ding, das jetzt alle haben.
Preist die strohblonde Influencerin aus Nürnberg sonst bei ihren Kosmetik-Tutorials Glitzerlippenstifte und Augenbrauen verlängernde Mittelchen an, hat es sie nun wie viele Stars der sozialen Medien erwischt. Sie hat die „InfluInflu“, wie die neue ansteckende Krankheit im Netz kurz genannt wird. Bedroht ist eine ganze Generation strahlender junger Beeinflusser.
Erst vor wenigen Tagen ist der Erreger in einer chinesischen Hacker-Bude entstanden – zwischen Chipstüten, Bierdosen und überquellenden Aschenbechern. Von der Millionenmetropole Wuhan breitete er sich wie alle Viren über Hongkong und Singapur in die ganze Welt aus. Ersten Schätzungen zufolge sollen bereits 1.200 Influencer erkrankt sein, einige schwer, manche mussten ihre Kanäle sogar für immer schließen.
„Flu en za influes“, schlagzeilte das britische Boulevardblatt The Sun diese Woche mit einem seiner kaum übersetzbaren Wortspiele. Aber von der fiebrigen Mediengrippe sind nicht nur Influencer betroffen, die fiese Seuche hat inzwischen viele Netzgemeinden in Mitleidenschaft gezogen. Kinder und Jugendliche sind schwer verstört, können sie doch derzeit nicht wie gewohnt vor Schulbeginn die neuesten Wimperntuschen-News beziehen.
Hierzulande hat Cathy Hummels erste Konsequenzen gezogen. Bekannt für ihre Schleichwerbung, will die deutsche Star-Bloggerin jetzt nur noch Schleichsex. Auch aus Verantwortung für den deutschen Fußball, wie die Spielerfrau sagt. Cathy Hummels wird in nächster Zeit auf den abendlichen Bildschirmkontakt mit ihrem Mann Mats Hummels verzichten. „Es muss auch mal richtig gehen, mit Haut und so, ganz anders“, erklärt die hippe Fashion-Lady, die seit Jahren mit ihrem Mann intim nur noch hopplahopp per Tiktok verkehrt. In diesen gefährlichen Zeiten will sie die Abwehr ihres Gatten, des Dortmunder Abwehrchefs, nicht zusätzlich schwächen und ihn mit der geheimnisvollen Netzseuche anstecken. „Ich habe da auch eine Vorbildfunktion. Und der BVB soll dieses Jahr Meister werden. Echt jetzt!“
Mensch und Monitor
Professor Christian Mallinckrodt vom Deutschen Institut für Tropenmedizin in Hamburg warnt: Das Gefährliche an dem Influencer-Virus sei, dass erstmals ein Erreger vom Bildschirm auf den Menschen übergesprungen ist. „Mensch und Monitor sind 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche verschmolzen. Da hat es ein Virus leicht, die Grenze zwischen Maschine und Körper zu überwinden“, erklärt der Seuchenmediziner. Und wieso sind nur Influencer betroffen? „Momentan jedenfalls“, schränkt Mallinckrodt ein, „offenbar evoziert eine schulische Fehlbildung, die nur auf ästhetische Wahrnehmungsprozesse setzt, die Mutation des Virus im medialen Wirkrahmen.“ Die Folgen seien noch gar nicht absehbar.
Eine Folge zeigt sich bereits in den USA. Dort ist das mächtige Imperium der Kardashians zusammengebrochen, nachdem sich die gesamte Familie per Bildschirm gegenseitig angesteckt hatte. Doch dann rettete Rapper Kanye West nach eigener Aussage seinen Milliardärs-Clan, indem er ein heilendes Lied ins Netz einspeiste, eine Coverversion des alten Motown-Songs „Sexual Healing“. Und seine Frau Kim wäre keine Kardashian, wenn sie nicht als Influencerin Nummer eins in der Welt sofort ein lukratives Geschäft aus der InfluInflu und dem Gegenmittel gemacht hätte. „Sexual Healing“ gibt es ab sofort als Lippenstift für nur 69,99 Dollar in ihrem Versand.
Trotz dieser ersten Gegenmaßnahmen beantragte die Weltgesundheitsorganisation WHO am Mittwoch beim UN-Sicherheitsrat die sofortige Schließung von YouTube. Nicht jeder Influencer könne sich das Heilmittel leisten, und eine ausreichende Produktion des Lippenstiftserums sei momentan nicht gewährleistet. Um die Seuche einzudämmen und eine Pandemie zu verhindern, sollten Menschen und Maschinen vorläufig entkoppelt werden. „Viel frische Luft, Waldspaziergänge und nur Tweets von Trump“, empfahl daraufhin Donald Trump in den Fox News und rief dazu auf, bei der nächsten Wahl für ihn als amerikanischen Präsidenten zu stimmen: „Trump hilft immer und bei allem!“
Gewohnt spät reagierte die deutsche Bundesregierung auf die drohende Gefahr. Wie Regierungssprecher Steffen Seibert in der Bundespressekonferenz mitteilte, sieht das Kanzleramt vorerst keinerlei Handlungsbedarf, weil das Netz in Deutschland sowieso so schlecht sei, dass eine Ausbreitung des Virus äußerst unwahrscheinlich ist. Die Bundeskanzlerin werde auch weiterhin ihre persönliche Video-Kolumne auf YouTube betreiben, allerdings plane Angela Merkel, als Vertretung prominenter Influencer einzuspringen und neben den klassischen Politikfeldern zusätzlich typische Mädchenthemen wie Make-up-Tipps, Schulhofklatsch oder Sexualaufklärung in ihrem Blog zu behandeln.
Kanzlerin und Kritiker
Umgehend griff der CDU-Zerstörer Rezo die Kanzlerin scharf an, die „nur nach ihrem ewigen Mumien-Motto“ handle: Bewege dich nicht, und alles erledigt sich von selbst. Deutschland bezeichnete der sichtlich von der Viruserkrankung gezeichnete Politikexperte Rezo als das „Nordkorea des Netzes“, was die Ministerin Doro Bär entschieden zurückwies: Deutschland sei im Gegenteil das „Südkorea des Netzes“ – und diese von ihr als Digitalisierungsbeauftragte der Bundesregierung persönlich nachts im Bett ausgedachte humorvolle Replik sei die einzig mögliche Antwort auf Vorwürfe eines Influencers, der sich nur angesteckt habe, weil er nicht wie sie ein bayerisches Dirndl trüge, das praktisch „wie eine Rüstung gegen jede Art von Virus“ diene, so die Ministerin Bär.
Am Donnerstag schließlich versuchte sich Angela Merkel erstmals als Influencerin und richtete sich per Video an die „junge Netzgemeinde“. Die Kanzlerin erzählte „eine krasse Geschichte“ aus ihrer Jugend: „Als ich siebzehn war, fragte mich meine Mutter eines Tages, ob ich schon einmal mit einem Mann geschlafen hätte. Ui, eine sehr offene Frage, dachte ich, aber ich wollte ebenso offen antworten: ‚Ja‘, sagte ich. ‚Und hat es dir Spaß gemacht?‘, bohrte meine Mutter nach. ‚Ja‘, bestätigte ich. ‚Das musst du von deinem Vater haben‘, meinte meine Mutter.“
Gegen solch eiserne Mecklenburger Robustheit kommt nicht einmal ein chinesisches Virus an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo