Kolumne Berlin viral: Anschmiegen an den Subwoofer
Der Jahresrückblick 2020 fällt kurz aus, ein 3:33 langer Song fasst die Gemengelage gut zusammen. Wie gut, dass Rettung naht.
U nd, bei Ihnen so? – Ja, bei mir auch. Wolken ziehen vorüber, Tage schleichen gleichförmig dahin, es verstetigt sich der Eindruck, dass die viele Zeit daheim einen entweder infantil oder trübselig oder mürbe oder alles zugleich macht.
Der Einzige, der noch ein bisschen Schwung in die Bude bringt, ist Scooter. Sämtliche Jahresrückblicke kann man sich sparen, es reicht völlig, sich wieder und wieder den brillanten Song „FCK 2020“ anzuhören und den ebenso brillanten Videoclip dazu anzuschauen. „A nightmare came true! The worst year ever! Like everyone's insane! Insane in the membrane!“ Scooter-Shouter H.P. Baxxter ist eh das fleischgewordene Ausrufezeichen!
Sollten Sie, wie ich, ein Neuling in der Scooter-Fangemeinde sein und auch schon damit geliebäugelt haben, das „FCK 2020“-T-Shirt aus dem Merch-Shop des Großmeisters zu ordern, muss ich Sie allerdings enttäuschen: leider ausverkauft.
Seltsame Anwandlungen dieser Art habe ich jetzt tatsächlich regelmäßig. Neulich parkte zum Beispiel in der Nähe meines Supermarkts ein Auto, zwei Jugendliche drin, und sie hörten in bester Dorftankstellenmanier lauten, ultrastumpfen Gabba-Hardcore-Tekkkno.
Und einen Moment lang dachte ich wirklich einfach nur: geil. Bekam Lust, mich in den Kofferraum neben den Basswoofer zu legen, wenigstens kurz mal anschmiegen. Die Selbstdiagnose, die ich erstellte, lautete: Dopaminmangel, Belohnungszentrum im Ausnahmezustand, Triebstau.
Komische Kollateralschäden
Wäre ja auch komisch, wenn dieses Jahr keine Kollateralschäden mit sich brächte. Denn ansonsten ist das Leben in ständigem Repeat-Modus, immer läuft exakt der gleiche Track. Titel: „Lockdown Routine“, Winter2020-Remix, aufgebaut aus den Teilen: Arbeit, Mittag, Arbeit, Laufen, Pizza, Glühwein, Lesen, Schlafen (Fade Out). Und wieder von vorn.
So gut wie nichts Unvorhergesehenes passiert. Jeden Morgen checke ich die neuen Zahlen und Inzidenzen, aber auch da geschieht nichts Unvorhergesehenes. Was zugleich bedeutet, dass die ödesten Tage des Winters erst noch kommen, wenn bald – völlig zu Recht – der richtige Lockdown verkündet wird. Dann hilft vielleicht selbst H.P. Baxxter nicht mehr.
Der Verkäufer des Spätis am Zickenplatz – neben Bürokolleg:innen mein regelmäßigster Sozialkontakt dieser Tage – und ich machen schon Witze über die ermüdende Gleichmäßigkeit des Seins. Jeden Abend komme ich ungefähr zur gleichen Uhrzeit bei ihm vorbei, um eine Zeitung zu holen. Als ich neulich etwas zu früh dran war, sagte er: „Raus! Ist noch nicht deine Zeit!“ Hinter seiner Plexiglasscheibe lachte er verschmitzt in seinen grauen Bart hinein. Früher gab es hier gern mal spontane Minipartys, wenn er die türkische Musik laut aufgedreht hat.
Aber das kommt bald wieder, ich glaube fest daran. Schon bald wird derselbe Späti-Verkäufer in die Schublade hinter seinem Tresen greifen und triumphal ein kleines Glasfläschchen zwischen den Fingern hochhalten.
Kurz darauf wird er sich in sein eigens eingerichtetes Impfstüblein setzen, er wird eine Spritze aufziehen, der ganze Laden darf einmal kurz bei ihm antreten, jeder bekommt seine Dosis BNT162b2, und dann gibt’s auch wieder spontane Turkish-Folk-Tanzeinlagen. Das wird schön.
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