Die Wahrheit: Schwere Modellbau-Irritation
Als toter Dichter wusste ich nicht viel mit mir anzufangen. Damit ich irgendetwas zu tun hatte, wurde ich von der Stadtverwaltung eingestellt.
A ls toter Dichter wusste ich nicht viel mit mir anzufangen. Damit ich irgendetwas zu tun hatte, wurde ich aus Mitleid von der Stadtverwaltung eingestellt. Meiner künstlerischen Vorkenntnisse wegen teilte man mich einem Modellbauprojekt zu. Die im Zweiten Weltkrieg und danach völlig zerstörte Talachse unserer Stadt sollte anlässlich eines Jubiläums im Maßstab 1:87 rekonstruiert werden. Angestrebt war der bauliche Zustand von 1930.
Eine Gruppe recht unterschiedlicher Menschen kam werktags zwischen acht und siebzehn Uhr in einem großen Raum zusammen, der eine fast zehn Meter lange und zwei Meter breite aufgebockte Holzplatte enthielt. Darauf befand sich eine modelleisenbahnartige Stadtlandschaft in verschiedenen Stadien der Fertigstellung. Schon jetzt war zu erkennen, wie stattlich unser Ort einst gewesen war, der inzwischen jeder Beschreibung spottete.
Die aus Arbeitslosen und Rentnern bestehende Gruppe, zu der ich nun gehörte, wurde von einem pensionierten Ingenieur geleitet. Er brachte uns bei, aus allen möglichen Materialien kleine Gebäude zu basteln, die ihren Originalen so ähnlich wie möglich sahen. Als Vorlagen dienten uns historische Fotografien, Stadtpläne und Luftbilder aus einem uns unbekannten Archiv.
Während alle meine Kollegen an mehreren Stadtteilen arbeiteten, wurde mir ein spezieller Bereich übertragen, für den ich ganz allein zuständig war. Mit etwas Übung schaffte ich es trotz meiner Ungeschicktheit, Beiträge zu dem Projekt zu leisten, die unseren Leiter zufriedenstellten. Es dauerte nicht lange, bis ich Andeutungen meiner Kollegen entnahm, dass meine Vorgänger mit der Arbeit nicht zurechtgekommen waren. Etwas daran schien sie irritiert zu haben, Genaues wollte mir aber niemand verraten.
Eines Tages entdeckte ich im hintersten Winkel des Schranks, der die Materialien für meinen Stadtbereich enthielt, das fertige Modell eines mehrstöckigen Firmengebäudes. Ich wunderte mich, dass es noch nicht in die Anlage einfügt worden war, und wollte das nun nachholen. Von dem Bauwerk existierten mehrere historische Bilder, so dass es leicht sein musste, den richtigen Standort für die Kopie zu finden.
Doch als ich mir die alten Fotos genau ansah, erlebte ich eine Überraschung. Ich sage es nicht gern, doch verhielt es sich so: Dasselbe Gebäude schien an drei verschiedenen Stellen des Stadtteils gestanden zu haben. Auf jeder der Aufnahmen wurde es von anderen Häusern flankiert, die ich allesamt identifizieren konnte.
Nun war auch ich irritiert. Unser Leiter, den ich ratsuchend darauf ansprach, reagierte gereizt und wollte nichts davon hören. So konnte ich nicht arbeiten, zudem war das keine Art, mit einem toten Dichter umzugehen. Deshalb kündigte ich. Seither weiß ich wieder nicht viel mit mir anzufangen, doch ist das wesentlich besser, als einer Arbeit nachzugehen, die mich vor absurde Aufgaben stellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!