Die Wahrheit: Meine Eltern sehen überall tote Kinder
Für Minderjährige ist die Welt ein gefährlicher Ort. Allerdings gibt es über die wirklichen Risiken sehr unterschiedliche Auffassungen.
M eine Eltern sehen überall tote Kinder. Eigentlich hätten sie in „The Sixth Sense“ mitspielen müssen. Überall sehen sie tote Kinder und immer erzählen sie davon.
„Die Nachbarin der Frau, die den Waschsalon besitzt, hat eine Kusine, die ein Kind hatte. Ein gesundes Kind. Und dann entschied die Kusine eines Tages, ihrem Kind eine Weintraube zu geben. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht dachte sie, dass Weintrauben ihm schmecken würden? Sie hat ihm jedenfalls eine gegeben. Ein einziges Mal. Und danach nie wieder. Denn das Kind ist sofort gestorben. Es war auf der Stelle tot.“
Was diese Kinder umbringt, probieren sie immer zum ersten und letzten Mal aus: Weintrauben essen, in Waschmaschinen klettern, Autotüren aufmachen, auf Hochstühle klettern, Hunde streicheln, Halloween-Kostüme aus China tragen, Schminke aus China oder vegan essen.
Die Frau aus dem Waschsalon hat viele Verwandte und die haben viele Bekannte. Und diese Bekannten hatten einmal viele Kinder, aber die sind alle tot.
Sie waren neugierig und tapfer, aber nun sind diese Kinder tot. Ich übertreibe. Tatsächlich sind nicht alle Kinder der Bekannten der Verwandten der Waschsalonfrau tot, manche sind nur gelähmt oder lernbehindert. Aber meist ist der Tod die Pointe der Geschichte meiner Eltern, dann folgt ein Seufzer der Zufriedenheit und anschließend die Moral: Wahrscheinlich würden die Mütter der toten Kinder sich das jetzt noch mal anders überlegen, wenn sie nur könnten. Es gibt aber auch Dinge, von denen meine Eltern einfach nicht glauben wollen, dass sie ein Kind umbringen können. Vor allem glauben sie nicht, dass sie mein Kind umbringen können.
„Muss das Baby wirklich in den Kindersitz?“, fragt meine Mama. „Kann er nicht auf deinen Schoß?“ Meine Tante hat auch eine Idee: „Wir können das Baby ja in den Kindersitz setzen, den Sitz aber einfach auf den Boden stellen, oder?“ Ich schaue meine Eltern an und frage mich, wie ich meine Kindheit überhaupt überlebt habe. Sonnencreme respektieren sie übrigens auch nicht. Und dass Kleinkinder Zucker vermeiden sollen, halten sie für eine Verschwörungstheorie.
„Möchte das Baby ein bisschen Schokopudding probieren?“, fragen sie. „Denkst du, das könnte ihm schmecken? Würde er es genießen, diesen Schokopudding zu essen?“
„Was?“, frage ich entgeistert zurück. „Würde dem Baby Schokopudding schmecken? Ja, sicher! Weil er voller Zucker und Schoko ist, was denkt ihr denn?“ Ich gucke auf den Pudding und merke, dass er seit einer Woche abgelaufen ist. „Ach“, sagen meine Eltern. „Das schreiben die Hersteller bloß drauf, um die Leute zum Puddingkaufen zu zwingen. Niemand ist je gestorben, weil er einen abgelaufenen Pudding gegessen hat!“
Wenn meine Eltern das sagen, muss es stimmen. Wenn irgendein Kind von den Bekannten der Verwandten der Waschsalonfrau daran gestorben wäre, hätten sie mir das längst erzählt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“