Die Wahrheit: Katzen- und Katersprünge
„Zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland gehört die Aufarbeitung der NS-Geschichte und der SED-Diktatur …“ – seltsamer Satz.
B etongrau verhangen war der Himmel, es wehte ein kräftiger Wind. Trotzdem, wir jieperten nach frischer Luft. Zum Auftakt unseres Spaziergangs durch die Auenlandschaft, zwischen den Kiesteichen, holte Inga im Gehen ihren Egosmart heraus: „Wundere dich nicht, ich will es exakt zitieren. Nämlich zwei, drei Zeilen aus dem Schriftsatz der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD. Moment … Also, vorletzte Seite, in der Rubrik ‚Kunst, Kultur und Medien‘ steht da: ‚Ohne Erinnerung keine Zukunft! Zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland gehört die Aufarbeitung der NS-Geschichte und der SED-Diktatur‘ …“
Ich trat achtlos in matschige Erde, übrig geblieben von den Überschwemmungen. Oder vom Regen? Egal, ich frug nach: „Wie bitte? Da steht NS-Geschichte und SED-Diktatur? Einerseits ein doch recht neutraler Wortlaut, andererseits ein klares Urteil? Ist das ‚demokratischer Grundkonsens‘? Oder subkutaner Hinweis, dass die Deutschen mehrheitlich zur Unterstützung des Regimes beitrugen?“
„Jetzt, wo du es merkst, sag ich’s auch“, meinte Inga. „Ich finde, es klingt, als hätte jemand aus der AfD am Text mitgestrickt, oder? Die AfD würde das sicher unterschreiben.“ – „Genau“, sagte ich, „niemand scheint es aufgefallen zu sein. Oder wie oder was? Wir bleiben dran.“ Inga sprang über eine Pfütze, mühsam ahmte ich ihre Bewegung nach.
Beide, der Katzen- und der Katersprung, hatten offenbar auch auf einige Synapsennetze gewirkt, ich murmelte sogar etwas von „neuronaler Plastizität“. Jedenfalls erfüllten wir die Redensart: „Zwei Dumme, ein Gedanke“, allerdings in der Version: „Zwei Schlauköpfe, ein Gedanke“. Ins Kino! Abends werde der Anime-Film „Your Name“ laufen, der ja sehr selten gezeigt wird. „Schon der Trailer hat mich begeistert“, sagte Inga. Und in wenigen Wochen starte der Kinofilm „Call Me By Your Name“: „Nicht zu verwechseln!“
Zum Zwischenstopp setzten wir uns in das Café Bibafresh, das ich noch nie von innen gesehen hatte. Ich kramte einen Zettel aus dem Portemonnaie und sagte: „Apropos Name: Diesen Fetzen Papier bewahre ich auf, als Talisman oder Memento, eine These des ,Pater Brown'-Autors Chesterton. Leider Antisemit, wie es heißt. Vielleicht ist das jetzt zu lang, aber trotzdem.
Hier: ‚Wir haben alle in wissenschaftlichen Büchern oder in Romanen die Geschichte von dem Mann gelesen, der seinen Namen vergessen hat. Er geht durch die Straßen, kriegt alles mit; nur, er kann sich nicht erinnern, wer er ist. Jeder Mensch ist dieser Mann in der Geschichte. Jeder Mensch hat vergessen, wer er ist. Man mag den Kosmos verstehen, aber niemals das Ego; das Selbst ist entfernter als jeder Stern. Wir haben alle unsere Namen vergessen. Alles, was wir Geist und Kunst und Ekstase nennen, bedeutet nur, dass wir uns für einen schrecklichen Augenblick daran erinnern, dass wir vergessen.‘“
„Gut, Stranger“, sagte Inga, „aber erinnern wir uns, rechtzeitig zum Kino zu gehen.“
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