Die Wahrheit: Frühling kontrovers
Ja oder nein? Oder beides oder doch? Die noch junge Jahreszeit ist die vielleicht umstrittenste ihrer Gattung. Ein Für und Wider im Lichte der Debatte.
V on allen Jahreszeiten ist der Frühling die umstrittenste. Der Streit hat aktuell sogar an Schärfe zugelegt, wenn ich mich nicht täusche. Viele meiner Bekannten nennen den Frühling inzwischen den Trump unter den Jahreszeiten. Die einen wegen seiner groben, unverschämten Art, weil er die Reichen noch reicher macht und die Welt an den Rand eines Atomkriegs bringt. Die anderen, weil er ihre simple Sprache spricht, erfrischend anders daherkommt und mit dem Establishment der saisonalen Abfolge gründlich aufräumt.
Man hasst ihn oder man liebt ihn – dazwischen scheint es nichts zu geben. Ich möchte trotzdem einmal eine vermittelnde Position einnehmen. Gewiss, so mancher begeistert sich an aufbrechenden Knospen und Trieben, tollt über nasse Wiesen, schlägt Purzelbäume und schnuppert an jeder Blüte, die sich ihm darbietet. Doch dafür muss ein anderer die Ohren vor den grässlichen Paarungslauten der Vögel verschließen, das penetrante Wechselwetter meiden und sich vor den Pollen ekeln, die alles bedecken wie ein Pelz oder eine Hautkrankheit.
Einerseits: Die Eisdielen haben wieder offen, man könnte den ganzen Tag im Schneeregen sitzen und „Hello Kitty“-Eis mit bunten Streuseln schlecken. Andererseits: Hundebesitzer, Kinderwagenmütter und Schirmträger verstopfen allüberall die Bürgersteige. Einerseits: Frühlingsgefühle. Andererseits: Heuschnupfen. Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte, zufällig auch etwa in der Mitte des Textes. Sie lautet: Der Frühling hat sowohl positive wie auch negative Aspekte!
Allesamt gehören sie schonungslos auf den Tisch, wenn man dieser verrückten Jahreszeit gerecht werden will. Bei mir hält es sich zwar so ungefähr die Waage; ich schätze durchaus die allgemeine Aufbruchsstimmung, die der Lenz verbreitet. Doch ich verspüre auch ein gerüttelt Maß an Wehmut und Trauer, vor allem über die verpassten Chancen. Es gibt da nämlich ein paar Dinge, die ich im vergangenen Winter noch machen wollte.
Ich wollte unbedingt noch mal meine Handschuhe irgendwo liegen lassen, etwa beim Grünkohlessen. Das habe ich in der vergangenen Saison leider versäumt, und es ist auch nicht nachzuholen, weil Handschuhe und Pelzmütze längst auf den Dachboden gewandert sind. Ich hätte auch gern noch einmal eine Schneeperson gebaut, notfalls aus Eischnee. Aber der hält sich bei diesen arktischen Temperaturen nicht.
Als gleichermaßen unerledigtes Vorhaben verzeichne ich: eine Großpackung Teelichter kaufen, aber bitte mal woanders als bei Ikea. Fällt auch flach, weil niemand weiß, wo es sonst Teelichter gibt. Ein Wunsch wurde mir jedoch herrlicherweise erfüllt: Ich wollte unbedingt noch mal mit den Zähnen klappern, weil das zum Handwerk gehört. Die nötige Eiseskälte hat sich nun gottlob eingestellt, es reicht mir sogar fast schon wieder. So bleibt mir nur, die Heizung kräftig aufzudrehen, statt völlig abzudrehen. Eventuell liebe ich diesen Frühling doch mehr, als ich ihn hasse.
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