Die Wahrheit: Kein Prozess
Als K. seinen dreißigsten Geburtstag beging, setzte sich plötzlich sein beinahe unheimlicher beruflicher Aufstieg in Gang.
J emand musste K. protegiert haben, denn ohne dass er etwas Gutes getan hätte, wurde er eines Morgens zum Leiter des Kassenraumes befördert. K. beteuerte seinen Kollegen seine Unschuld. Er beging an diesem Tage seinen dreißigsten Geburtstag; so war nicht ausgeschlossen, dass die Kollegen sich mit ihm einen Spaß erlaubten.
In dieser Hoffnung schickte sich K. in seine Lage, bis er in das Zimmer des Direktors gewiesen wurde. Dieser eröffnete K., dass es seine Richtigkeit habe und er sich für höhere Aufgaben bereithalten solle. Das weckte K.s Ehrgeiz. Tatsächlich wurde er bald Leiter der Niederlassung, in der er bisher Dienst getan, nachdem der Direktor verhaftet worden war, für die Dauer der Ermittlungen beurlaubt wurde und nicht zurückkehrte; man fand seinen leblosen Körper in einem verlassenen Steinbruch außerhalb der Stadt, wo der Unglückliche dem Anschein nach, zermürbt von den nicht enden wollenden Anschuldigungen, den Freitod gesucht hatte.
Einige Zeit darauf wurde K. telefonisch verständigt, es habe eine Untersuchung in seiner Angelegenheit stattgefunden; er möge sich in die in der Hauptstadt gelegene Zentrale verfügen. Nachdem er sich am genannten Tag bang dorthin begeben, ein Diener ihn ins oberste Stockwerk geführt und er vor einem Tisch, an dem mehrere Männer saßen, unsicher Posten bezogen hatte, eröffnete man ihm, er sei in den Führungszirkel des Unternehmens aufgenommen. Ein Schwindel überkam K., der das Leben in der Provinz gewohnt war und fürchtete, dass sein berufliches Fortkommen seinem privaten Glück hinderlich sei, zumal er sich bereits seinen Kollegen, zu deren Vorgesetztem er aufgestiegen war, entfremdet hatte.
Eben letzterer Umstand aber erleichterte ihm den Umzug in die neue Umgebung. Mehr und mehr musste K. erkennen, dass es gut um seine Sache bestellt war. Seine Arbeit entschädigte ihn für die Sorgen zu Hause, deren Ursache sie zugleich war; seine Frau und er lebten sich auseinander. Seine Gedanken wurden vollständig von dem Unternehmen beansprucht, insbesondere nachdem er zum Mitglied des Vorstands ernannt worden war. Er kannte keine Verwandten mehr. So kam ihm einmal der Besuch eines Onkels vom Land sehr ungelegen.
Es erwies sich, dass der Mann von der ihm, K., zugewachsenen Machtfülle wusste und mit Worten, aus denen die Angst vor der Schmach eines Bankrotts sprach, ihn, K., um Geld anging. K. schnappte nach Luft, versprach aber, das Erforderliche einzuleiten, und verabschiedete den Onkel, der nie wieder von K. hörte. Seine Frau verließ ihn mit den Kindern, während er zum Vorstandsvorsitzenden aufstieg und seinen Wirkungskreis auf den Staat ausdehnte.
Es gelang ihm, ohne dass ihm jemals der Prozess gemacht worden wäre – schon die Sache mit dem Direktor hatte nie Verdacht erregt –, Minister und schließlich den Kanzler zu lenken, der K. für seine Verdienste den höchsten Orden des Landes verlieh. „Wie ein Held!“, sagte er hinterher, habe er sich gefühlt, ihm war, als würde sein Ruhm ewig leben.
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