Die Wahrheit: Wie war ich, Liebling?
Nicht nur im Internet, auch in der analogen Welt wird man ständig nach Bewertungen gefragt. Aber was bringt das?
W er manchmal online einkauft, kennt das. Man bekommt früher oder später die Ware per Post, ist mehr oder weniger zufrieden und hat die Sache irgendwann vergessen. Doch dann kommt vom Verkaufsportal eine Mahnung: „Bitte bewerten Sie den Verkäufer.“ Um seine Ruhe zu haben, macht man das geschwind, aber seine Ruhe hat man trotzdem nicht. Etwas später kommt nämlich die Aufforderung, das gekaufte Produkt zu bewerten. Sodann soll man die Bewertungen anderer Kunden bewerten: „War die Bewertung hilfreich?“
Bei einem Auktionshaus, nennen wir es Uboy, sind gute Bewertungen geradezu überlebenswichtig. Kauft man etwas, wird man nicht selten vom Verkäufer angebettelt, fünf Sterne zu vergeben. Manche Händler ziehen sogar vor Gericht, um eine schlechte Bewertung anzufechten. Wenn man den Verkäufer verleumdet, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Man sollte also immer sachlich bleiben. Das gilt freilich nicht für den Gauner aus Hongkong, der mir ein Blitzgerät verkauft, es aber nicht geschickt hat. Er vertröstete mich so lange, bis es nicht nur für eine Bewertung zu spät war, sondern auch für die Rückforderung des Geldes – nicht aber für eine Verwünschung frei nach dem Römer Servandus: Dem Gott Magulus übergebe ich den Übeltäter, dass er ihn vor dem neunten Tag zerstöre.
Das Internet ist ein Paradies für Querulanten. Die eine Hälfte der Menschen scheint damit beschäftigt, die andere Hälfte zu bewerten, und die gibt daraufhin Rachebewertungen ab. Aber auch ohne Computer wird man ständig aufgefordert, Noten zu verteilen. Am Dubliner Flughafen steht ein Gerät, auf dem drei Smilies abgebildet sind. Einer lächelt, einer schaut desinteressiert, einer sieht grimmig aus. Man soll auf einen dieser Smileys drücken, um kundzutun, welche Erfahrungen man auf dem Flughafen gemacht hat. Auf dem Flughafen in Glasgow hat man vorsichtshalber über der Warteschlange vor der Sicherheitskontrolle ein großes Schild angebracht. „93,7 Prozent der Fluggäste waren zufrieden mit der Kontrolle.“ Mit anderen Worten: Beschwerden sind sinnlos, du bist in der Minderheit. Als ich zufällig in den Nacktscanner muss, gehöre ich aber zu den 6,3 Prozent.
Im Hotel in Glasgow funktioniert die Bewertung analog. Auf dem Nachttisch liegt ein Zettel. Was soll man da ankreuzen? Ein Zimmer im Keller für umgerechnet 90 Euro die Nacht, papierdünne Wände, eine brummende Lüftung, und die Rezeption liegt in einem Haus auf der anderen Straßenseite. Aber die Rezeptionistin hat ein bezauberndes Lächeln, sodass ich es nicht übers Herz bringe, ihr die Wahrheit zu sagen. Vermutlich hält sie mich jetzt zu recht für einen Opportunisten, denn sie weiß ja, dass ihr Haus nicht „die beste Adresse Glasgows“ ist, wie ich behauptet habe.
Wie fanden Sie übrigens diese Kolumne, liebe Leserinnen und Leser? Sie können sie online bewerten. Ich bin sehr an Ihrer Meinung interessiert. Bei weniger als fünf Sternen installiert sich automatisch ein Virus auf ihrem Computer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!