Die Wahrheit: Schlaffe Naturgewalten
Aus dem Tagebuch einer Strandwanderin: Wenn die Ostsee-Gestade schon enttäuschen, muss man halt das Landesinnere erkunden.
W ochenende! Von Berlin fährt der Regionalexpress nach Rügen. Vor dem Fenster blüht Raps, „Express“ bleibt allerdings ein Geheimnis, denn in jedem Kaff, das mehr als sieben Einwohner zählt, wird gehalten. Kurz vor den Bahnhöfen erklingt – „Dum-didel-dum-dum-dei“ – eine Volksweise. „Weil du mein Leevsten bist?“, rät die Reisebegleitung. In jedem Provinzkaff ein Liebster? Dum-didel-dum-dum-dei … Die Vorstellung hat was.
Dann steht man unversehens in Binz vor der an den Strand schlabbernden Ostsee, und angesichts dieser müden Performance spricht die Reisebegleitung, Hamburgerin und Nordseegewalten gewöhnt, die bittere Wahrheit aus: „Ostsee. Die kann eben nix.“
Wenn die Gestade schon enttäuschen, muss man halt das Landesinnere erkunden. Das Ziel heißt Putbus, wo Wilhelm Malte der Erste einst zum eigenen Ergötzen ein klassizistisches Stadtensemble anlegte. Veranschlagt sind 15 Kilometer ausgeschilderter Radweg. Eine Stunde später befindet man sich irgendwo im Wald, das Buschwindröschen nickt, Veilchen schmiegen sich an Waldmeister, dann Autoreifen und Benzinkanister und eine Wohnwagenruine, in der bestimmt ein deutscher Unabomber … und es sind nur noch drei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit! Gibt es auf Rügen eigentlich Suchhunde?
Doch dann, unvermittelt: Zivilisation! Putbus! Erleichtert wird am Bahnhof der „Rasende Roland“, eine rußspeiende Spielzeugbahn bestiegen und im Buffetwagen eine 1A-Bockwurst verspeist. Am Nebentisch beugen sich ein paar biertrinkende, kopfhörerverstöpselte Jungs über ihre MP3-Player. „Ey, Mann, Bata Ilic!“ Bata Illic? Echt jetzt? „Michaeeeela …“, jubelt der Jungschor, es folgt High Five mit Bierflaschen. Paaarty auf Rügen!
Zurück in Binz, die dösende Ostsee hat noch nix dazugelernt. Eingedenk der Verirrungen des Vortags fällt am Morgen die Wahl auf einen schönen, geraden Fahrradweg, parallel zum schlaffen Meer. Von all den wartenden Leevsten träumend strampelt man dahin und prallt auf einen zu Stein gewordenen Alptraum. Das Nachtmahr heißt Prora, klärt ein Banner auf, zieht sich über satte viereinhalb Kilometer und war die Naziidee von „Fun in the Sun“, auch bekannt als „Kraft durch Freude“. Damit die Freizeitnazis bei der Ertüchtigung nicht in die wilde Ostsee fielen, trennt am Strand ein nationalsozialistischer Schutzwall den Sand vom Meer und die Kraftkörper vor zu viel Badespaß. Später ging das Prora-Monster in den Besitz der NVA über, jetzt gehört es dem Bund. Auch eine Gebäudekarriere. Investoren beißen sich die Zähne dran aus, der Bund will es loswerden. Als Lösung böte sich, ganz im Sinne von KdF, der Abriss durch Neonazis an. Natürlich umweltschonend, mit der Spitzhacke. Gibt ein super Sixpack!
Plötzlich taucht aus einem dürren Kiefernwäldchen wie eine Fata Morgana ein singender Wanderer auf: „Ich hab noch Sand in den Schuhen aus Hawaii …“ Unfassbar, Rügen ist die Bata-Illic-Zentrale! In Abwandlung seines größten Hits ein Vorschlag: „Ich hab noch Blasen an den Händen von Prora …“
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