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Die WahrheitReisen wider besseres Wissen

Reisen hasste und fürchtete Rotter, weil ihm die Welt ein Gräuel war. Denn „wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“.

Rotter, dank einer beträchtlichen Erbschaft finanziell abgesichert und infolgedessen eigentlich in der Lage, ein sorgenfreies, zufriedenes Leben zu führen, empfand stattdessen großen Überdruss. Er hatte das Gefühl, mit allem durch zu sein, und huldigte der Überzeugung: „Es ist alles Quatsch, totaler Quatsch.“ Und damit meinte er in der Tat buchstäblich und ausnahmslos alles. Infolgedessen interessierte er sich für nichts und tat auch nichts.

Wohlmeinende Menschen, darunter auch sein Psychotherapeut, vertraten die Ansicht, Rotter müsse sein Leben von Grund auf ändern. Im Grunde lebe er ja gar nicht wirklich. Was ihm fehle, seien neue Eindrücke, Aktivität, Umgang mit Menschen, körperliche Bewegung. Um leben zu können, brauche er „Grenzerfahrungen“. Das einfachste, probateste Mittel sei in so einem Fall eine Reise.

Reisen jedoch hasste und fürchtete Rotter, weil ihm die Welt ein Gräuel war. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, erwiderte er deshalb, ließ auch das Thema „Reisepsychosen“ nicht unerwähnt. Sein Therapeut insistierte dennoch: „Verreisen Sie, schließlich können Sie sich das doch leisten. Fahren Sie möglichst weit weg, irgendwohin, wo Ihnen alles fremd ist. Lassen Sie sich überraschen, seien Sie ganz offen für alles. Es ist auch vollkommen gleichgültig, wohin Sie fahren, Sie werden dank der Synchronizität geradezu automatisch finden, was Ihnen entspricht.“

Weil Rotter seinen Überdruss nicht mehr ertrug, beschloss er, notgedrungen und gegen seine Überzeugung zu versuchen, was der Therapeut ihm riet. Er packte, bestimmte aleatorisch irgendeinen Zielort, kaufte sich eine Fahrkarte und setzte sich in den Zug. Nach ein paar Stunden schlief er ein.

Er erwachte, weil jemand an seinem Oberarm rüttelte und wiederholt „Hallo“ rief. Schlaftrunken meldete Rotter sich mit Namen. Allmählich dämmerte ihm, dass er in einem Zug saß und dass die Schaffnerin ihm etwas mitteilen wollte.

„Die Fahrt endet hier“, sagte die uniformierte Frau, „es geht nicht weiter. Sie müssen aussteigen.“ Auf die Frage, was denn der Grund sei, bekam er keine Antwort. Es hieß nur, er solle sich mit dem Aussteigen beeilen. Typisch, dachte Rotter, das habe ich nun davon. Reisen ist Quatsch, totaler Quatsch. Gewohnt, immerfort zu irgendetwas genötigt zu werden, nahm er seine Reisetasche und stieg aus. Anscheinend war er der einzige Fahrgast, außer ihm befanden sich nur die Schaffnerin und ein männlicher Kollege von ihr draußen. Nun kam auch der Lokführer dazu. Die drei redeten aufgeregt von der übergroßen Schädlichkeit der Landschaft, in der man sich gerade befand. Soviel Rotter verstand, lehnte sich die Landschaft besonders gegen alles zur Bahn Gehörige auf und trachtete, es zu vernichten. Die Bahnbediensteten mussten daher zu Fuß aus der Gegend fliehen. Im Laufen rief die Schaffnerin Rotter zu: „Schlagen Sie sich zur nächsten Blockstelle durch!“

Der Zug korrodierte und fiel in sich zusammen. Ärgerlich dachte Rotter: Mit Reisen bin ich jetzt aber endgültig durch.

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