Die Wahrheit: Mauerfall mit Gossen-Goethe
Tagebuch einer Gratisleserin: Wer vorige Woche die Umsonst-„Bild“-Zeitung zum Mauerfall-Jubiläum bekam, der durfte steinerweichend lachen.
W er vor ein paar Tagen eines der 42 Millionen Gratisexemplare einer Sonderausgabe der Bild-Zeitung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls aus dem Briefkasten zog, durfte auf der Titelseite den erschütternden Bericht des auch als „Gossen-Goethe“ bekannten Bild-Kolumnisten Franz Josef Wagner über sein Leben als Mauerstein lesen: „Liebes Deutschland. Ich sah Menschen, die vor mir verbluteten. Ich sah Mütter, die weinten. Ich war ein Stein in einem Land ohne Licht“. And a Rock feels no pain, was wohl derartigen verschwurbelten Prosakitsch erklärt. Aber nein! Wagner fährt fort: „Steine können lachen. Steine können weinen.“
Ratlos blättert man vom Stein zum „Denkmal“ Exkanzler Kohl. Bombastisch bestrahlt, als gelte es, Pink Floyds „The Wall“ auszuleuchten, sinniert er allein und im Rollstuhl vorm Brandenburger Tor. „Es ist kalt“, beschwert er sich schließlich – vermutlich, damit in dem Begleittext, der ihm „einsame Gedanken“ andichtet, wenigstens ein authentischer Satz vorkommt.
Von Helmut Kohl geht es auf direktem Weg zu Simone Thomalla und ihrer Tochter Sophia und hinein in die „schönste Form der Ostalgie“. Die präsentiert sich allerdings eher wie die Schlampen-WG einer Reality Soap, in der die Damen mit schwellenden Lippen und gereckter Brust (Simone) und hingeräkelt im knappen Trägerkleidchen (Sophia) in einer angeblich seit 1989 unveränderten, original möblierten Ostwohnung posieren.
Sophia will wissen, warum ihre Mutter zu DDR-Zeiten – damals im sechsten Monat schwanger – bei einer Reise nach Castrop-Rauxel nicht rübergemacht hat. „Ich bekam Schnappatmung“, lautet die Antwort, „ein klassischer Fall von Reizüberflutung.“ Reizüberflutung in Castrop-Rauxel?!
In Chile mit Lockenwickler im Haar
Frau Thomalla lässt noch wissen, dass man in der DDR „relative Sicherheit“ hatte, „keine großen Sprünge“ machen, aber auch „nicht ins gesellschaftliche Abseits geraten“ konnte. Stasi-Opfer werden das sicher gern bestätigen.
Des weiteren treten auf: Margot Honecker, die in Chile mit Lockenwickler im Haar beim Öffnen ihrer Haustür fotografiert und mit dem – irgendwie nachvollziehbaren – Satz „Hauen Sie ab, Sie unverschämter Kerl!“ zitiert wird; eine Auswahl kompetenter Zeitzeugen – unter ihnen Brad Pitt, Cameron Diaz und Albert von Monaco –, die ihre Gefühle vom Tag des Mauerfalls mitteilen dürfen; ein aus der DDR stammender Bild-Redakteur, der beim Versuch, sein Begrüßungsgeld zurückzuzahlen, scheitert – wobei sich die Frage stellt: Wie blöd darf man eigentlich sein, um Bild-Redakteur zu werden?
Zwischendrin empfindet Siemens „Freude. Ungeteilt.“, und die Deutsche Bank wirbt sinnbefreit für „Freiheit aus Leidenschaft“. Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer, untertitelt mit „Wir sind das Volk“ werden ungefragt Teil einer „Wir sind das Auto“-Kampagne von VW. Und weiter geht’s mit Google, Media Markt, Vodafone etc. …
Lieber F. J. Mauerstein, auch Leser können lachen. Leser können weinen. Manchmal laut und zum Steinerweichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin