Die Wahrheit: Wie ich den Morbus S. entdeckte

Es gibt so viele Ängste. Aber warum muss ich ausgerechnet an einer unerklärlichen Phobie gegen Sitzmöbel leiden und deshalb überall stehen?

Im Herbst 1980 entwickelte ich eine unerklärliche Angst vor Sitzmöbeln. Fortan zog ich es vor zu stehen. Ich stand beim Essen, beim Lesen und auch, wenn ich fernsah. Oft fiel es gar nicht auf. In Bussen und auf Partys erregte ich genauso wenig Aufsehen wie an der Theke des „Rasta Inn“.

Weit hinderlicher war meine Furcht bei amourösen Unternehmungen, da die meisten jungen Frauen erstaunlich wenig Interesse daran haben, an Theken zu stehen und Bier zu trinken, sehr gern hingegen ins Kino gehen. Gerade im Kino jedoch fühlte ich mich wie auf einem fremden Planeten. Jede Dulcinea betrachtete mich ungläubig, wenn ich, nachdem sie sich hingesetzt hatte, neben ihr stehenblieb und von hinten unentwegt Rufe wie „He, Lulatsch, setz dich – oder soll ich nach vorne kommen und dir die Beine kürzen?!“ herüberschallten.

Vor allem aber brachte mich mein Kumpel Walter zum Grübeln. „Bonvivant wirst du mit dieser beknackten Phobie jedenfalls nicht“, sagte er, und es war klar, was er meinte. Wir hatten den Plan, nach dem Abitur als intellektuelle Lebenskünstler zu reüssieren, und wir wussten, dass deren Tagwerk hauptsächlich darin bestand, in tiefen Sesseln zu sitzen und filterlose Zigaretten zu rauchen. „Wenn du dein Leben im Stehen verbringen willst“, sagte Walter, „solltest du über eine Karriere als Fahrstuhlführer nachdenken.“

Ich beschloss, dem neurotischen Bammel endlich die Stirn zu bieten. Noch am selben Abend trat ich vor den Ohrensessel in unserer Diele und setzte mich blitzartig hin: Mein Herz wummerte heftig, ich schloss die Augen, atmete tief, wollte schon jubilieren, dass ich es aushielt, da – schnappte der Sessel zu! Er verschlang mich mit einem Happs, kaute mich genüsslich durch, und als er mich wieder ausspuckte, war ich nur noch ein blankpoliertes Skelett, das klappernd auf dem Dielenboden zersprang …

Als ich schreiend die Augen aufriss, stellte ich fest, dass ich noch immer auf dem Sessel saß und mein Fleisch akkurat die Knochen umhüllte. Ich hatte geschlafen, ich hatte geträumt – und ich hatte es überlebt! Ich wusste, jetzt war ich geheilt.

Trotzdem ist es mir nie gelungen, von meiner Tätigkeit als Bonvivant zu leben. Stattdessen bin ich bis auf den heutigen Tag gezwungen, mich regelmäßig als Aushilfsfahrstuhlführer zu verdingen, um meine Brötchen zu verdienen.

Empfindlicher traf es mich, als ich kürzlich davon las, dass ein österreichischer Psychiater mit der Entdeckung einer Phobie vor Sesseln und Stühlen für Furore in der Fachwelt sorgt und mit Preisgeldern nur so überschüttet wird. Ich rief ihn an und klärte ihn darüber auf, dass ich den Morbus S. bereits vor über 30 Jahren entdeckt hatte und mir daher doch mindestens die Hälfte der von ihm kassierten Gelder zustehen würde. Doch hat das leider nur dazu geführt, dass ich dauernd von zwei Pflegern verfolgt werde, die mir eine Zwangsjacke überzustülpen versuchen, und so werde ich fürs Erste wohl nicht darauf verzichten können, den Fahrstuhl im Frankfurter Europaturm für ein karges Salär auf und ab zu bewegen.

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kari

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