Die Vermessung des Esstisches: Wie man sich hinsetzt, so isst man
Wo findet die Familie an Weihnachten zusammen, wo wird genossen, getrunken und gestritten? An einer reich gedeckten Tafel. Eine Würdigung.
Es ist wie mit dem aufrechten Gang: Wie sich Homo sapiens auf zwei Beinen einrichtete, daran entlang wird gemeinhin die Menschheitsgeschichte erzählt. Und wie hoch der Mensch die Tische aufstellte, an denen er speist, daran lässt sich die Geschichte der Esskultur skizzieren.
Anfangs war es nur ein Brett – eine Tafel –, die das Essen ein paar Zentimeter über den Boden erhob. Zu antiken Zeiten dann galt es als schick, sich um das Essen zu legen, nicht nur die alten Römer, auch Ägypter und Griechen stellten ihre Teller auf Kniehöhe ab. Oder auf Tischchen, die sie später unter ihre Liegen schieben konnten.
So ging es weiter, der Tisch wurde höher und höher, bis vor gar nicht allzu langer Zeit in Wohnungen Stehtische auftauchten, wie im Imbiss. Das liegt an der um sich greifenden Popularität von Streetfood, dient vor allem aber der Effizienzsteigerung. Essen im Stehen spart einfach Zeit, auch zu Hause.
Wird in TV und Spielfilm heutzutage gegessen – das gilt für Sitcoms, aber nicht nur –, dann am offenen Kühlschrank (aus der Eisfach-Perspektive gefilmt), am Küchentresen oder auf dem Sofa. Meist steht in der Kulisse aber auch noch verwaist ein großer Esstisch. Zum bedeutenden Requisit wird er immer nur an Weihnachten oder Thanksgiving, wenn die Komödie ins Drama wechselt – oder umgekehrt.
Das bildet die Realität ganz gut ab. Besucht man ein durchschnittliches Möbelhaus, dann sind die interessantesten Küchenlandschaften die, in denen man zwischen den Esssituationen wechseln kann. Der Gipfel an Luxus ist, wenn auch noch ein großer Esstisch dabei ist, je länger und größer, umso lieber, damit Kinder, Kindeskinder und Freunde daran Platz finden mögen. Egal, dass es selten dazu kommt. Und in der Pandemie noch seltener.
Der große Bruder des Kombi
Meine These ist: Der Esstisch ist der große Bruder des Kombi. Diese praktische Karosserieform mit besonders viel Laderaum war einst die dreidimensionale Entsprechung von Wunsch und Wirklichkeit von Familie. Im Auto und am Esstisch, da verdichtete sich, was ihre Mitglieder vereint und trennt.
Ich fahre heute ungern Auto, und wenn, dann am liebsten einsam. Esstische hingegen müssen groß sein und ich mag, wenn viele daran Platz nehmen. Schon früher konnte der Stress bei Tisch noch so groß sein, oft entspannte das Essen die Situation oder, wenn auch noch Onkel, Tanten und Großeltern daran saßen, konnte man in der Masse der Großfamilie abtauchen. Der VW Passat dagegen war der Ort der Kleinfamilie, da gab es kein Entrinnen von irgendeiner Übellaunigkeit auf den Vorder- oder Rücksitzen, und brannte die Sonne zusätzlich aufs Blechdach, heizte das den Lagerkoller noch an – und die Gummibärchen schmolzen auch.
Wenn ich zurückdenke, fällt mir auf: Die Tische meiner Kindheit wuchsen mit, sie waren ausziehbar – und ohne Ecken, also meist oval oder wie der Tisch meiner Eltern rund. Ich fremdelte lange mit dieser Tischform, bis mir aufging, dass die runde Form einen emanzipatorischen, demokratischen Aspekt hat. Der dominante Platz am kurzen Ende fehlt, „der vor Kopf“, wie Oma sagte.
Mein Ideal vom Esstisch ist der WG-Tisch – klobig, rechteckig, nicht zum Ausziehen – wie aus dem Wirtshaus. Genau so ein Exemplar habe ich selbst von Wohngemeinschaft zu Wohngemeinschaft gezogen, ihn am Ende einer Kreuzberger WG vermacht und mich noch jahrelang nach seinem Befinden erkundigt. Es war ein Tisch, an dem immer noch Platz war für einen unangekündigten Besuch, theoretisch wenigstens.
Erst gemeinsam wird das Essen zur Kulturtechnik
Es heißt: Wie man sich bettet, so liegt man. Genauso gilt: Wie man sich hinsetzt, so isst man – mit anderen. Denn erst mit weiteren Menschen wird aus dem Essen eine Kulturtechnik, die auch emotional und sozial nährt. Der Tisch bringt Menschen auf Augenhöhe, die im Stehen zueinander hoch- oder runtersehen –, und schafft zugleich angenehme Distanz, weil das Möbel Körperlichkeit verbirgt (ich hasse Glastische) und physische Annäherung verhindert. Man muss sich Platz nehmen und diesen manchmal auch behaupten. Zugleich trennen Servietten, Geschirr, Besteck und Utensilien wie Salz- und Pfefferstreuer auf dem Tisch in deins und meins und unseres.
Das ist sozialer Raum, und der schafft Öffentlichkeit, auch im Esszimmer oder in der Küche und im engsten Familien- und Freundeskreis. „Intime Öffentlichkeit“ nennt das der Philosoph Daniel Martin Feige, Professor für Ästhetik an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart. Für ihn ist der Esstisch kein so alltäglicher Gegenstand: „Das gemeinsame Sitzen am Tisch ist eine paradigmatische Praxis in unserer Gesellschaft, in der wir uns mit anderen verständigen können, wer wir sein wollen und was uns mit anderen verbindet“, hat er 2017 in einem Essay geschrieben. Es sei ganz ähnlich der Funktion, die Martin Heidegger dem Tempel in der Antike zuschreibt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Feige will den Esstisch zwar nicht zum kultischen Gegenstand erklären. Aber seine Überlegungen machen deutlich, warum an Weihnachten so vieles stark und oft ritualisiert – kurz bevor die Gans auf den Tisch kommt – im Familienzwist kulminieren kann, nicht nur im Film. Gerade in Familien begegnen sich komplexe und unterschiedliche Bilder vom Ich und Du und Wir – und sie können sich sogar schon über Tischform oder Material trennen.
Die verschiedenen Esssituationen in heutigen Küchen entsprechen dem Patchwork an Öffentlichkeiten, wie sie die moderne Familie schafft. Das Minimum ist aber für mich nach wie vor ein Tisch, der so groß ist, dass daran immer Plätze frei bleiben. Denn sie deuten auf das Potenzial, dass ein weiterer Gast noch eine weitere Perspektive haben könnte: auf das Essen, das Gespräch, die gemeinsame Situation. Sie versprechen: Die nächste Öffentlichkeit, die der Tisch stiftet, könnte schon wieder eine ganz andere sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe