Die Reden Wolodymyr Selenskyjs: Der Kommunikationskönig
Auch Dank seiner Rhetorik und Storyteller-Qualitäten wurde Wolodymyr Selenskyj zur Heldenfigur. Eine Auswahl seiner Reden erscheint jetzt auf Deutsch.
Es war wenige Stunden vor dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine, als Wolodymyr Selenskyj den Kommunikationskrieg für eröffnet erklärte. Am 24. Februar 2022 um 0.30 Uhr verkündete der ukrainische Präsident – auf Russisch und an die Bürger Russlands gerichtet – via Telegram-Kanal: „Wenn wir angegriffen werden – wenn jemand versucht, uns unseres Landes zu berauben, unserer Freiheit, unserer Leben, der Leben unserer Kinder –, werden wir uns dagegen wehren. Und wenn Sie uns angreifen, sehen Sie unsere Gesichter, nicht unsere Rücken.“
Die Gesichter, nicht die Rücken. Unsere Gesichter, nicht unsere Rücken. In den Worten, die Selenskyj in den ersten Tagen der russischen Invasion wählte, mit den sozialen Medien, über die er kommunizierte, deutete sich bereits an, über welche rhetorischen und audiovisuellen Waffen dieser Präsident verfügt. Nur zwei Tage später, als das Land bombardiert wurde, sendete er von den Straßen Kiews ein Video, das schon jetzt historisch ist.
Er sagte: „Ich bin hier. Wir werden die Waffen nicht niederlegen. Wir werden unseren Staat verteidigen. Denn unsere Waffe ist die Wahrheit.“ Worte als Instrument der Selbstbehauptung, als Kraftfutter, als Mutmacher.
In dieser Woche erscheinen die gesammelten Reden Wolodymyr Selenskyjs auf Deutsch („Botschaft aus der Ukraine“), er selbst hat sie ausgewählt. Darunter finden sich Ansprachen aus der Zeit vor dem Beginn des Angriffskriegs, etwa seine Rede vor der UN-Vollversammlung 2019, darunter finden sich aber auch seine Reden nach der Invasion durch Russland.
Wie er im März 2022 vor dem britischen Parlament Winston Churchills Rede „We Shall Fight on the Beaches“ zitiert, ist genauso nachzulesen wie seine Kritik an der deutschen Russlandpolitik im Deutschen Bundestag wenige Tage später. Beim Lesen beschämt es einen zum wiederholten Mal, wie der Bundestag und die Ampelkoalition anschließend nahtlos zum business as usual übergingen.
Worte eines Leaders
Selenskyj und sein Team sind Kommunikationskönige. Gegenüber den eigenen Bürgern und den Soldat:innen wählt er (als Oberbefehlshaber der Streitkräfte) einfache, eindeutige, einende Sätze mit appellativem Charakter, etwa am ersten Morgen des Angriffskriegs: „Wir sind stark. Wir sind zu allem bereit. Wir werden jeden bezwingen. Weil wir die Ukraine sind.“ Es sind Worte eines Leaders.
Vor der Weltöffentlichkeit beweist er seine Qualitäten als Storyteller. Nicht umsonst verwendet er häufig Sätze wie „Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen“. Im Washingtoner Holocaust Memorial Museum erzählt er die Geschichte seines Großvaters Semen Selenskyj, der im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis kämpfte und als einziger von vier Brüdern überlebte. Vor der UN-Vollversammlung erzählt er die Geschichte des ukrainischen Opernsängers Wassyl Slipak, der 2016 in Luhansk im Kampf für sein Land fiel.
Bei seiner Antrittsrede im ukrainischen Parlament im Mai 2019 erzählt er die Geschichte des isländischen Fußballnationalteams der Männer und schwärmt von dessen Erfolgsrezept: „Ein Zahnarzt, ein Regisseur, ein Pilot, ein Student und ein Gebäudereiniger fanden sich zusammen, um die Ehre ihres Landes zu verteidigen. Niemand glaubte, dass es ihnen gelingen würde, doch genau so war es.“ Damit nimmt er die Geschichte des heutigen ukrainischen Widerstands um drei Jahre vorweg.
Wolodymyr Selenskyj: „Botschaft aus der Ukraine“. Aus dem Englischen von Christiane Bernhardt und Gisela Fichtl. Siedler Verlag, München 2022, 160 Seiten, 16 Euro
Einerseits nutzt Selenskyj nun all die Skills, die er als Unterhaltungsprofi vor seiner politischen Karriere gesammelt hat. Selenskyj, eigentlich diplomierter Jurist, war als Komiker in der Ukraine schon lange eine große Nummer, als Teenager war er Monty-Python-Fan. Seine erste Rede als Präsidentschaftskandidat hielt er eigentlich noch als Comedian und Schauspieler.
Die Fiktion überholen
Im Jahr 2015 startete seine Serie „Diener des Volkes“ in der Ukraine, Selenskyj spielt darin den Geschichtslehrer Wassyl Petrowitsch Holoborodko. Eine von einem Schüler gefilmte Wutrede über Korruption in der Ukraine geht viral, der Lehrer wird Präsidentschaftskandidat und gewinnt sensationell. Selenskyjs reale Geschichte hat schließlich die Fiktion überholt: Der Comedian, der den Geschichtslehrer spielte, der zum Präsident wurde, wird 2019 selbst Präsident.
Innerhalb der Präsidentschaft Selenskyjs ist der 24. Februar 2022 eine Zäsur, wie sie krasser kaum sein könnte. Auf internationalem Parkett wusste man ihn vor diesem Datum immer noch nicht richtig einzuschätzen, er war alles andere als unumstritten. Seine Verbindungen zum Oligarchen Ihor Kolomoiskij, die Erwähnung in den Pandora Papers, ein Dekret, mit dem er 2021 zwei Verfassungsrichter entließ: Sowohl inner- als auch außerhalb der Ukraine sah sich Selenskyj zum Teil herber Kritik ausgesetzt.
Der Krieg hat aus Wolodymyr Selenskyj eine Heldenfigur gemacht, die er wahrscheinlich nicht einmal selbst so gescriptet hätte. Den Status aber hat er nicht zu Unrecht, denn es war auch seine Rhetorik, die den westlichen Unterstützern imponiert hat und die vor allem dazu beigetragen hat, dass die Ukrainer:innen heute selbst an ihre (militärische) Stärke glauben.
Selenskyj kommt zu jedem Zeitpunkt entschlossen und entschieden rüber, er agiert im Krieg so überzeugend, wie ihm das vielleicht nicht mal seine Anhänger zugetraut hätten.
Bitterer Humor
Dazu kommt der Humor, der zwar in Zeiten des kriegerischen Horrors ein anderer, ein bittererer geworden ist, den aber weder Soldat:innen noch der Präsident vollends verloren haben. Zwei Tage nach Beginn des Angriffskriegs lehnt Selenskyj Joe Bidens Ausreiseangebot bekanntermaßen mit den Worten „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“ ab. Ähnlich wie der Ausspruch ukrainischer Soldaten „Russisches Kriegsschiff, fick dich …!“ ist der Satz zum geflügelten Wort geworden.
In „Botschaft aus der Ukraine“ lernt man viel über den Player, den Strategen, den Mahner Wolodymyr Selenskyj. Im ersten Teil des Buchs, den Reden vor dem Angriffskrieg, tauchen zwei Vokabeln immer wieder auf: Freiheit und Würde (oder auch Ehre). Es ist das Erbe der Orangen Revolution, das Erbe des Euromaidan, das Selenskyj da verteidigt.
Vor gut einem Jahr sagte er am „Tag der Würde und Freiheit“, an dem in der Ukraine der Opfer der jüngeren proeuropäischen Demonstrationen gedacht wird: „Ukrainer wissen um eine einfache Wahrheit: dass ein Leben ohne Freiheit gar kein Leben ist. Uns ist bewusst, dass wir, verlieren wir unsere Freiheit, auch unsere Ehre verlieren. Unsere Ehre zu verlieren, hieße, unsere Herzen zu verlieren. Unsere Herzen zu verlieren, hieße, unsere Seelen zu verlieren. Und unsere Seelen zu verlieren, hieße, unser Leben zu verlieren.“
Wer also genau hingehört hat, der konnte schon damals das Pathos erkennen, das er später als Kriegspräsident rhetorisch perfektionieren würde. Und der ahnte vielleicht auch schon, dass es in Kriegszeiten (die auch zu dem Zeitpunkt schon herrschten) von Vorteil ist, einen Kommunikator wie Selenskyj an der Spitze des Staates zu haben.
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