Die Linke und der Islamismus: Selektive Erblindung
Das Glück des Salman Rushdie oder warum linke Solidarität gegen Islamisten keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
A ls ich mich das erste Mal intensiver mit Antisemitismus unter dem Deckmantel von Antizionismus befasste, stieß ich auf etwas historisch Bemerkenswertes: Die deutsche Linke trat in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als vehemente Fürsprecherin Israels auf. Man kämpfte etwa für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem jüdischen Staat – in einer Zeit, in der die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Existenz Israels im besten Fall gleichgültig gegenüberstand.
Erst als Deutschland und Israel 1965 Botschafter austauschten und diplomatische Vertretungen in Bonn und Tel Aviv errichteten, wendete sich das Blatt. Fortan rückte die Linke größtenteils von Israel ab, umso mehr, als die Supermächte sich im Verlauf des Nahostkonflikts klar gegeneinander aufstellten: die USA aufseiten Israels, die Sowjets aufseiten der kriegführenden arabischen Staaten.
Während Europas führende linke Intellektuelle der Nachkriegszeit, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, es für unangebracht hielten, über Israel moralische Urteile zu fällen, wurde das für die nächste Generation, die der studentischen Linken, zur Selbstverständlichkeit. Wer von Imperialisten wie den USA und ihren Vasallen wie Deutschland unterstützt wurde, war abzulehnen. Der Freund meines Feindes ist mein Feind.
An diese radikale Wende der Linken – mit Ausnahmen natürlich – fühle ich mich auch bei dem Verhältnis der Linken zum Islamismus erinnert. Der Kampf gegen Islamismus ist einmal in progressiven Kreisen Konsens gewesen. Ein wesentlicher linker Kritikpunkt in der Asyldebatte der 1980er und 1990er Jahre war beispielsweise, dass ein Islamist in Deutschland leichter Asyl bekommen konnte als eine Feministin oder ein Menschenrechtler. Islamisten wurden, etwa in Algerien, staatlich verfolgt und waren deshalb aussichtsreiche Kandidaten im Asylprozess. Kritische Intellektuelle, Frauenrechtlerinnen oder homosexuelle Aktivisten wurden dagegen häufig von nichtstaatlichen Akteuren verfolgt – Islamisten zumeist – und waren damit nicht asylberechtigt. Ihnen drohte die Abschiebung.
Silke Mertins
gehört zum Meinungsressort der taz. Sie befasst sich seit 25 Jahren mit dem Nahen und Mittleren Osten, mit dem politischen Islam, dem Dschihadismus und seinen Folgen.
Ein Höhepunkt linker Solidarität gegen den Islamismus zeigte sich jedoch ohne Zweifel in der Kontroverse rund um die „Satanischen Verse“ des indischbritischen Schriftstellers Salman Rushdie. Als das Buch 1989 herauskam, tobte die muslimische Welt: „Erschießt Rushdie!“, „Hängt ihn!“, „Satan Rushdie“. Bücher brannten, britische Fahnen und sein Porträt. Der iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini rief am 14. Februar mit einer Fatwa dazu auf, den Schriftsteller wegen Gotteslästerung zu töten. Zuletzt wurde das Kopfgeld auf Rushdie 2016 auf vier Millionen Dollar erhöht.
Was also tun, wenn die Meinungsfreiheit so fundamental bedroht ist? Wenn der Chef eines Gottesstaates verhindern will, dass anderswo auf der Welt ein Buch gedruckt wird? Die taz rief die deutschen Medien dazu auf, gemeinsam die „Satanischen Verse“ auf der Titelseite zu drucken. Frank Schirrmacher, damals FAZ-Literaturchef, meldete sich hocherfreut bei der taz, machte jedoch einen Rückzieher, als er merkte, dass sich kein anderer Verlag anschließen mochte. „Niemand wollte die Verse abdrucken“, erinnert sich taz-Mitbegründer Arno Widmann. Alle hätten sich weggeduckt. „Immerhin hatte Khomeini ja jedem, der sie abdrucken würde, mit dem Tode gedroht.“ In der taz dagegen: keine Diskussion. „Irgendwann einmal fragte jemand auf einem Plenum, ob man nicht darüber hätte abstimmen müssen, schließlich betraf es ja alle Mitarbeiter“, erinnert sich Widmann. „Aber als ihm oder ihr erklärt wurde, man bräuchte keine taz mehr, wenn man sich so leicht das Maul verbieten ließe, ging man zum nächsten Tagesordnungspunkt über.“
Eine Woche nach der Todes-Fatwa – es war ein Mittwoch während der Berlinale, und die taz kostete noch eine Mark dreißig – erschien die Titelseite mit den verteufelten Auszügen aus den „Satanischen Versen“ im Wortlaut zusammen mit einem Foto von Salman Rushdie. Es war eine ziemliche Bleiwüste und würde sicher keinen Layoutpreis gewinnen, aber dennoch war es eine der wichtigsten und mutigsten Titelseiten, die die taz je gemacht hat. Übrigens ist diese historische Titelseite vom 22.2.89 in dem 394 Seiten starkem Buch „40 Jahre taz“ nicht zu finden – leider. Es gibt nur eine ausführliche Zusammenfassung des Buches und eine Beschreibung der Ereignisse.
Die zentrale Frage lautet jedoch: Würde die taz – oder ein anderes linkes Medium – heute noch genauso handeln? Würde man es wagen oder überhaupt wollen? Dafür spricht, dass in der taz immer noch viele Reporter*innen und Redakteur*innen arbeiten, die Anfeindungen, einen anhaltenden Shitstorm oder Drohungen auszuhalten bereit sind. Die taz ist zudem ein Autor*innenblatt. Zu jedem starken Meinungsstück gibt es garantiert immer auch eine zweite Meinung, mit der für das Gegenteil eingetreten wird.
Unrecht ist Unrecht
Wagen würde man es also schon. Mit dem Wollen sieht es indes ganz anders aus. Der 11. September hatte eine ähnliche Wirkung auf die Linke wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel: Man möchte nicht auf derselben Seite stehen wie der Staat, der infolge des Terroranschlags Gesetze verschärfte, Bürgerrechte einschränkte und Migration erschwerte. Innenminister Otto Schily, der mit seinem „Otto-Katalog“ bei der Verschärfung das Wort führte, wurde zum Feindbild vieler Linker. In dem Moment, wo Islamisten zu Staatsfeinden wurden, hatte die politische Linke – nicht in ihrer Gesamtheit, aber doch mehrheitlich – ein Problem. Es setzte eine Beißhemmung gegenüber Islamisten ein. Schließlich möchte man Stachel im Fleisch der Mächtigen sein und keine staatstragenden Meinungen vertreten.
Viele Linke verlegten sich darauf, ihre Kritik auf die Menschenrechte und die Menschenrechtsverletzungen westlicher Staaten gegenüber islamistischen Dschihadisten zu beschränken. Eine berechtigte Anklage natürlich und moralisch unangreifbar. Unrecht ist Unrecht. Doch gleichzeitig lässt sich auf diese Weise auch sehr bequem vermeiden, zum Islamismus selbst Position zu beziehen und politische Forderungen aufzustellen.
Vieles verwirrte außerdem. So waren die Attentäter des 11. September keineswegs arme Schlucker, von Unterdrückung gezeichnet, ohne Hoffnung auf eine anständige Zukunft. Im Gegenteil, es waren größtenteils Studenten aus gutem Hause, die vergleichsweise sorglos in Europa lebten. Osama bin Laden selbst stammt bekanntlich aus einer geradezu märchenhaft reichen Familie.
Auch die Islamfeindlichkeit, die in Deutschland wie überall im Westen wuchs, machte eine Positionierung nicht leichter. Islam und Islamismus wurden von immer mehr Menschen gleichgesetzt. Angst und Ablehnung bestimmten den öffentlichen Diskurs. Das rechte Spektrum begann, das Thema zu besetzen. Wie also Stellung beziehen, ohne rassistisch, ethnozentristisch oder paternalistisch zu sein? Die Frage ist berechtigt und die Antwort schwierig. Die Linke ist sie bis heute schuldig geblieben.
Zum Tee mit bin Ladens Bodyguard
Ich habe als Nahostkorrespondentin oft mit Islamisten Tee getrunken: mit Hamas-Gründer Ahmed Jassin im Gazastreifen ebenso wie mit islamistischen Theokratiehardlinern im Iran, die darauf bestanden, als „Fundamentalisten“ bezeichnet zu werden, und einmal sogar mit einem ehemaligen Bodyguard von bin Laden. Man merkt ziemlich schnell, dass kritische Fragen einfach abprallen. Islamisten präsentieren ein in sich geschlossenen Weltbild. Aus ihrer Sicht ist es folgerichtig, ja fast zwingend, Andersdenkende und Ungläubige umzubringen oder wenigstens zu unterjochen. Trotzdem kann es viel offenbaren, wenn man mit ihnen spricht. Zum Beispiel: Begriffe wie Toleranz oder Kompromiss gehören nicht zu ihrem aktiven Wortschatz. Sie verschleiern nichts, man weiß genau, woran man mit ihnen ist.
Jeder, der bereit ist zuzuhören, kann nur zu einem Schluss kommen: Es geht beim Islamismus um gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Kein Rassismus und keine Benachteiligung kann das relativieren. Diese Tatsache übersehen zu wollen ist fast schon wieder eine Leistung an sich. Man kann und muss einem großen Teil der Linken deshalb vorwerfen, Menschenfeindlichkeit aufgrund einer selektiven Erblindung nicht zu erkennen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Salman Rushdie hatte Glück im Unglück. In einer Situation, die zum Verzweifeln war, konnte er sich der Solidarität der politischen Linken sicher sein. Meinungsfreiheit stand noch über der Angst, als Rassistin oder Rassist bezeichnet zu werden. Linke und Linksliberale standen Religionskritikern aller Länder bei. „Das Leben des Brian“ und die Lust, sich über religiösen Pietismus lustig zu machen, war zu der Zeit kulturelles Allgemeingut. Wozu braucht es eine Linke, wenn sie denen, die gesellschaftliche Konventionen hinterfragen, Unterstützung verweigert? Kritik am Islamismus den Konservativen und Rechten zu überlassen ist ein großer politischer Fehler. Sich für Frauenrechte, LGBTI, Minderheiten oder schlicht das Recht, Traditionen zum Teufel zu jagen, einzusetzen gehört zur linken DNA. Islamisten bedrohen jeden einzelnen Wert, für den die politische Linke seit jeher eintritt, allen voran Freiheit und Gleichheit.
Die Hinrichtung des französischen Lehrers Samuel Paty im Oktober steht exemplarisch für eine Realität, die nicht nur an den Schulen und nicht nur in Frankreich längst eingetreten ist: die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch nichtstaatliche Akteure. Es ist nicht mehr möglich, sich in der Schule mit der Meinungsfreiheit oder Religionskritik in Bezug auf den Islam auseinanderzusetzen, ohne ein Risiko einzugehen. Der Mord an dem Lehrer wird zweifellos Selbstzensur und Vermeidungsstrategien noch verstärken. Ändern kann sich das nur, wenn Kulturrelativismus klar erkennbar dort endet, wo Menschen- und Freiheitsrechte betroffen sind; wenn der Kampf gegen Dschihadismus und Islamismus als Teil des Antifaschismus verstanden wird. Alles andere ist falsch verstandene Toleranz.
Würden also Rushdies „Satanische Verse“ auch heute noch die Solidarität von 1989 erfahren? Die Antwort lautet: Leider nein.
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