Die Kunst der Woche: Nahaufnahmen des Kleinen
Zwei Ausstellungen widmen sich Werken, die im Kleinen große Geschichten erzählen – von Google-Street-View-Fragmenten bis zu ukrainischen Tarnnetzen.
E ine der ersten Ausstellungen, die Heike Tosun ab Januar 2011 in ihrer Galerie Soy Capitàn zeigte, kombinierte heimlich aufgenommene Schnappschüsse Miroslav Tichýs mit Arbeiten Shahin Afrassiabis, der aus dem damals noch recht neuen Onlinedienst Google Street View Zufallsaufnahmen von Personen herauszoomte.
Rund 15 Jahre sind seitdem vergangen, Soy Capitàn ist in der Zwischenzeit zweimal umgezogen und befindet sich nun im Galerienhaus in der Lindenstraße. Afrassiabi wird weiterhin von der Galerie vertreten und er ist auch beteiligt an der Schau, mit der Tosun nicht nur ihr Jubiläum, sondern auch „The Power of Small Things“ feiert. Werke, nicht nur von Künstler:innen aus dem Galerieprogramm, sind dort versammelt, an die man nah herantreten muss, in denen sich Formen, Zeichen, Gesten, Erzählungen auf kleinem Raum verdichten.
Manchmal, wie bei Afrassiabi, bilden sie nur das Fragment eines größeren Ganzen ab – den chaotischen Hintergrund des Ateliers von Francis Bacon auf einer Fotografie von Francis Goodman, die Afrassiabi seit einiger Zeit wieder und wieder malt. Andere stellen sogar selbst schon eine Vergrößerung dar, wie Klara Hobzas gerade einmal sechs mal vier Zentimeter große Bleistift- und Tintezeichnungen von Ameisen, denen parasitäre Pilze aus dem Insektenkopf wachsen. Wieder andere fangen in Details Stimmungen ein, wie die aus Filz zurechtgezupften an persönliche oder kollektive Erinnerungen angelehnten Bildobjekte Melissa Josephs.
Mehr Raum gewährt Fabian Knecht den insgesamt vier Arbeiten, die er aktuell bei Alexander Levy zeigt. Die titelgebende Soundarbeit „Frank“ lässt sich zunächst auditiv nur schwer zuordnen. Der Text zur Ausstellung verrät, was zu hören ist: Chiropraktiker Frank, der die geschundenen Künstlergelenke unter lautem Knacken wieder einrenkt.
Verspannungen zieht sich Knecht unter anderem auf den langen Fahrten zu, die er seit 2022 mit seinem VW-T5 in die Ukraine unternimmt. Dabei sitzt der Künstler, um seinen Rücken zumindest ein wenig zu schonen, auf einer Sitzauflage aus Holzperlen, wie sie in den 1990ern angesagt waren. Als Readymade hat er eine solche an die Wand gehängt.
Mehr als das sind die aus Textilresten gefertigten Tarnnetze, die Knecht in einem Transporttrolley in den Ausstellungsraum gekarrt hat. Diese Netze, von der ukrainischen Bevölkerung aus Stoffresten und Sportnetzen zusammengeknotet, sind einer der Gründe, warum Knecht dorthin fährt: Er tauscht die für den militärischen Nutzen kaum geeigneten DIY-Versionen gegen Bundeswehr-Tarnnetze aus und stellt Erstere stattdessen aus. Im Kunstkontext verwandeln sie sich in soziale oder, wie er es nennt, humanitäre Plastiken, die symbolhaft, fragmenthaft den ukrainischen Widerstand, die hineingeknüpfte Hoffnung visualisieren.
„The Power of Small Things“. Soy Capitàn, bis 17. Januar. Mi.–Sa. 12–18 Uhr, Lindenstr. 34
Fabian Knecht: „Frank“. Alexander Levy, bis 19. Dezember, Mi.–Sa. 11–18 Uhr, Alt-Moabit 110
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