Die JVA Tegel wird 125 Jahre alt: Wie eine „Stadt in der Stadt“
Vom Königlichen Strafgefängnis bis zur Justizvollzugsanstalt. In Tegel wird seit 125 Jahren wechselhafte Gefängnisgeschichte geschrieben.
Mögliche Assoziationen bei Nicht-Berlinern sind da gerne mit dem ehemaligen Flughafen verbunden und weniger mit der Anstalt des geschlossenen Vollzugs, die mit zu den ältesten im ganzen Land gehört. Für den braven Bürger ohne Vorstrafen ist es schwer vorstellbar, wie sich das Leben in so einer „Stadt in der Stadt“ anfühlen muss. Für den ein oder anderen Häftling aber auch, der überhaupt nicht einsieht, dass er sich dort länger aufhalten soll. Und so ist die Liste der erfolgreichen Ausbrüche sehr lang.
Es fing schon kurz nach der Eröffnung des „Königlichen Strafgefängnisses Tegel“, wie es damals hieß, an, als ein Buchbinder namens Carl Becker sein Heil in der Flucht suchte. Eigentlich war er ja stolz auf seine Tätowierungen, ein wunderschöner Anker auf jeder Hand, doch in diesem Moment verfluchte er die nautischen Motive, weil sie ihn als steckbrieflich gesuchten Ausbrecher enttarnen konnten. Tatsächlich war der junge Mann dann auch einer der Ersten, die das zweifelhafte Vergnügen hatten, das an der Tegeler Chaussee gelegene Gefängnis von innen kennenzulernen.
Im Oktober 1898 wurden die ersten 90 Strafgefangenen in die drei „Verwahrhäuser“ in Tegel eingeliefert – wahrlich kein schöner Begriff, als würde man dort Menschen wie Pakete stapeln. Die Beamten legten „Personalakten“ an, darin fanden auch Anträge der Häftlinge sowie Beschwerden Eingang. Auch Carl Becker wird man im Grünen Pferdebahnwagen, im Volksmund „Grüne Minna“ genannt, vom Molkenmarkt aus mit dem Polizeipräsidium seinem neuen Zielort näher gebracht haben. Ab 31. August 1900 wurde diese Fahrt geradezu rasant, denn nun waren es elektrisch betriebene Transportwagen, Achtung, die „Dicke Pauline“ war unterwegs!
Grün – nicht nur die Farbe der Hoffnung
Was Becker eigentlich auf dem Kerbholz hatte, ist unbekannt, ebenso sein weiterer Werdegang. Schicksalsgenossen hatte er so einige. Und so kam es mitunter auf der Landstraße bei Tegel in Richtung Berlin zu dieser Ansprache, wenn sich zwei Männer begegneten: „Du kommst doch ooch aus’m jrienen Boom, wah?“, wie es der Kriminalschriftsteller Hans Hyan festgehalten hat. Gemeint war damit der Tegeler „Knast“. Grün, das war eben nicht nur die Farbe der Hoffnung auf ein Leben in Freiheit dieser Schicksalsgemeinschaft mit ungewisser Zukunft. Eine Berliner Zeitung nannte sie einmal „Deklassierte“ – aber immerhin mit „Bürjerbrief“, und das war das Entlassungspapier.
Viele blieben nicht lange, weil vor allem nur geringe Gefängnisstrafen ab sechs Tagen und Haftstrafen ab 15 Tagen dort verbüßt wurden. Für diesen Kurzvollzug war das Verwahrhaus I gedacht. Verwahrhaus II diente als Zugangshaus und für Langstrafen von mehreren Jahren, grundsätzlich war Tegel bekannt als Verwahrort für die Berliner Kleinkriminellen.
Zu den anfangs drei Verwahrhäusern kam später noch ein viertes für die Gemeinschaftshaft hinzu für diejenigen, die für eine Einzelhaft nicht in Frage kamen. Tegel wurde zu einem perfekt organisierten Mikrokosmos innerhalb der immer größer werdenden Me-tropole. Mit Gefängniskirche, Krankenhaus, Koch- und Backhaus, Wasch- und Badehaus, Werkstätten für die Verwaltung und Beamtenwohnungen.
Die Aufseher rekrutierten sich zu über 70 Prozent aus ehemaligen Soldaten. Einer von ihnen war Bernhard Jäckel, ein 1855 im schlesischen Nieder-Leschen geborener Gefangenenaufseher, der um 1885 noch in Prenzlau als Sergeant lebte. Als er hörte, dass ein neues Strafgefängnis in der Planung war, das vor allem das ältere Plötzensee entlasten sollte, bewarb er sich als Aufseher und blieb bis zum Eintritt des Rentenalters.
Auf Ebay verhökert
In Jäckels Nachlass – der statt in einem Archiv zu landen auf Ebay verhökert wurde – fanden sich verschiedene Dokumente. Vor allem die Übersicht über die Anstaltsregistratur verdeutlichte den immensen Aufwand für einen reibungslosen Betrieb der Strafanstalt: Formulare, Verordnungen, Abrechnungen, Übersichten von Ein- und Ausgaben, aber auch Namen von Unternehmern und deren Werkführer, die im Strafgefängnis ungehindert ein- und ausgehen mussten, alles musste akribisch festgehalten werden. Sogar die Telegramme anlässlich der Hochzeiten der Aufseher waren namentlich erfasst worden.
Konnte Jäckel damals ahnen, wie sich sein Arbeitsort einmal verändern würde? Zwei Weltkriege musste der Beamte miterleben, bis er im Juli 1942 als „Justiz-Hauptwachtmeister a.D.“ in der Tegeler Bahnhofstraße verstarb. Und welche der prominenten Häftlinge hat er selbst erlebt?
Dem Ostpreußen Friedrich Wilhelm Voigt wird er wohl begegnet sein, der knapp zwei Jahre bis zum 16. August 1908 in Tegel einsaß. Ausgerechnet dieser Mann, der als falscher „Hauptmann von Köpenick“ nicht zuletzt auch das Preußische Beamtentum konterkarierte, lobte die Tegeler Mannschaft als „mustergültig“.
1913 stieg die Anzahl der Gefangenen auf durchschnittlich 1.565. Dann brach der Erste Weltkrieg aus und aus dem Verwahrhaus I wurde 1916 das Militärgefängnis. Erst das Revolutionsgeschehen 1918/19 brachte durch ungezählte Schutzhäftlinge die gefürchtete Überbelegung der Anstalt.
Als der Schriftsteller und Journalist Carl von Ossietzky am 10. Mai 1932 unter Hochrufen seine 227-tägige Haftstrafe wegen „Landesverrats“ antrat, wurde er – so geht es aus Briefen an seine Ehefrau Maud hervor –, von den Beamten „freundlich und nett und voll Interesse“ behandelt, er hielt aber eben auch fest: „Es ist einsam hier.“ Private Briefe durfte er sowieso nur alle vier Wochen schreiben, für einen Schriftsteller war das die Höchststrafe. Immerhin soll seine einsame Zelle „gar nicht übel“ gewesen sein.
Oberstrafanstaltsdirektor Bruck legte zu der Zeit, als der später von den Nazis im KZ gepiesackte von Ossietzky Häftling war, Wert darauf, dass die Menschenwürde gewahrt wurde. Das war nicht immer so. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Justiz vor allem als eine Art „Racheengel“ fungiert und es darauf angelegt, den Häftlingen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Oder wie es der ehemalige Reichsgerichtsrat Otto Mittelstädt einmal gnadenlos ausdrückte: „Der Gefangene soll rücksichtslos angespannt werden im Scharwerk jeglicher Art, soweit das Mark seiner Knochen und die Sehnen seines Fleisches es ertragen. Er soll es als grausame Pein empfinden.“ Die Gefangenen sollten nicht nur physisch, sondern auch psychisch gebrochen werden.
Das dunkelste Kapitel Tegels
In der Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands mit dem massiven Einfluss auf die Justiz wurde so unter anderem auch ein Teil des Hauses III für Untersuchungshäftlinge des Volksgerichtshofs eingerichtet. Das dunkelste Kapitel Tegels konnte man dann ab Januar 1943 stellenweise im Namensregisterbuch der Häftlinge ablesen: „KZ-Lager Auschwitz zugeführt“.
1945 fanden russische Truppen nur leere Zellen vor, das Gefängnis war längst aufgelöst worden, die Häftlinge entweder entlassen oder durch alliierte Bombardierungen ums Leben gekommen. Der Neuanfang war schwer, bedingt auch durch die Teilung der Stadt. Ab 1955 wurde das Gefängnis in „Strafanstalt Tegel“, 1977 schließlich in „Justizvollzugsanstalt Tegel“ umbenannt.
Heute fristen bis zu 900 männliche Insassen ihr Dasein in der JVA, abgeschirmt von einer 1.465 Meter langen Außenmauer mit 13 Wachtürmen, 580 Personen bietet sie einen Arbeitsplatz. Doch was ist mit den Menschen, die die Mauern mit Leben füllen müssen? Wie kann man sie auf den viel beschworenen „Pfad der Tugend“ zurücklenken? Eine Frage, auf die nicht immer eine Antwort gelingt.
Aber auch die Außenwelt ist gefordert: Vorurteile überwinden ist eines der Anliegen der Rehabilitation. Mittlerweile kommen die Besucher tatsächlich auch schon einmal freiwillig, und zwar immer dann, wenn das Gefängnistheater aufBruch Vorstellungen im Freistundenhof einer der Teilanstalten gibt. Der Gedanke dahinter ist, verschüttete Fähigkeiten und Ressourcen freizulegen, Teamfähigkeit, Kommunikation, Disziplin und Konzentration zu fordern und so ebenfalls zu fördern. Auf das Leben danach vorzubereiten.
Der Erfolg ist ungewiss, aber einige werden hoffentlich ihr Ziel erreichen, nämlich den einstigen „jrienen Boom“ nie mehr von innen wiederzusehen.
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