: Die Hackordnung bestimmt der Teammanager
■ Noch nie hat ein aufstrebender Jungstar den Mannschaftskapitän so früh in die zweite Reihe verwiesen. Was zählt, ist der enorme Imagegewinn für die Telekom
So souverän und eindrucksvoll Jan Ullrichs Sieg bei der Tour de France erscheinen mag, so kraß widerspricht er den Gepflogenheiten des Radsports. Noch nie zuvor hat eine Mannschaft den amtierenden Toursieger so frühzeitig fallenlassen und einen aufstrebenden Jungstar an seine Stelle gesetzt.
Als 1985 der Amerikaner Greg LeMond drauf und dran war, seinen durch einen Nasenbeinbruch gehandikapten Kapitän Bernard Hinault in den Pyrenäen zurückzulassen, wurde er durch ein Machtwort des damaligen Teamchefs Bernard Tapie zur Räson gebracht und verrichtete fortan brav seine Dienste als Edeldomestike. Ähnliches widerfuhr Miguel Induráin 1990. Der Spanier war auf dem Weg nach L'Alpe d'Huez mit einer Spitzengruppe davongefahren, bekam jedoch Order, auf den abgehängten Pedro Delgado zu warten. Induráin blieb praktisch stehen und führte dann tatsächlich seinen Chef soweit an die Konkurrenten heran, daß der seine Chance auf den Sieg wahren konnte. Obwohl LeMond und Induráin stärker waren, schützten die Teamleiter ihre Ikonen Hinault und Delgado. Soviel Loyalität gab es für Bjarne Riis nicht. Als er auf der 10. Etappe nach Andorra Schwierigkeiten hatte, wurde er kaltblütig geopfert, und Ullrich durfte auf eigene Faust losfahren. Der Grund der ungewöhnlichen Maßnahme liegt auf der Hand: für die Telekom ist ein deutscher Tour-Sieger hundertmal mehr wert als ein dänischer. Das weiß natürlich auch Riis, der dennoch mit Sicherheit Gift und Galle gespuckt hat. Es dürfte die Verantwortlichen einige Anstrengung gekostet haben, den Abservierten so bei Laune zu halten, daß er fürderhin halbwegs überzeugend die Rolle des treuen Gefährten, Scheinkapitäns und edlen Sportsmannes spielte.
Einfache Frage: Hätte Ullrich die Tour auch dann gewonnen, wenn er ein 23jähriger Däne wäre, und Riis ein 33jähriger Toursieger aus Deutschland? Antwort: sicher nicht. Riis allerdings ebensowenig. Auf dem Weg nach Andorra hätte Ullrich bei klassischem Verlauf an der Seite seines Chefs bleiben müssen, und das gelbe Trikot wäre mit einigen Minuten Vorsprung an den Franzosen Virenque gefallen. Beim Zeitfahren in St. Etienne hätte Ullrich bei fehlender Motivation durch den greifbaren Tour- Sieg weniger dominiert, Riis wäre ohne die Enttäuschung seiner Degradierung stärker gefahren und nahe an das gelbe Trikot herangekommen. In L'Alpe d'Huez und am Glandon hätte er versucht, den Rückstand so gering zu halten, daß er die schwächeren Zeitfahrer Virenque und Pantani beim heutigen Rennen gegen die Uhr am vorletzten Tour-Tag noch hätte überholen können. Angesichts der Probleme, die er in den Alpen hatte, kaum anzunehmen. Ullrich hingegen hätte sich im Dienste seines Kapitäns aufgerieben, die Tour wäre an Virenque gegangen.
Demnach traf Telekom-Manager Walter Godefroot genau die richtige Entscheidung, als er Ullrich auf dem Weg nach Andorra freie Fahrt gab. Nur widersprach sie jeglicher Tradition und stellt so einen Meilenstein in der Tour-Geschichte dar. Nie zuvor haben bei der Tour de France die Interessen eines Unternehmens so maßgeblich bestimmt, was auf den Straßen der Pyrenäen und der Alpen zu geschehen hatte. Matti Lieske
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