Die Grünen als Demokratielabor: Der lange Weg zur Macht
Um das Land zukunftsfähig zu machen, müssen politische Entscheidungen breiter getragen werden. Die Grünen könnten das schon mal üben.
S ie „sehen sich an. Sie lächeln. Sie gucken wieder nach vorn“, und das „mit Eloquenz und Augenmaß, mit Empathie und Visionen“. Nicht nur im Stern schwärmt das progressive Deutschland für sein demokratisches Königspaar Annalena Baerbock und Robert Habeck (Grüne).
Aber die Gegner schlafen nicht. Nicht die vom Focus, wo der altgediente Bild-Kolumnist Müller-Vogg zum Feministen wird und die Fans von Annalena aufstachelt; nicht die brandenburgische Verfassungsrichterin Juli Zeh, die in der Radikalität beim Klimaschutz eine die Gesellschaft spaltende Gefahr sieht; nicht die Bild-Zeitung, die den Chef (!) der Meckerpartei in Neuwahlen treiben möchte; nicht Bernd Stegemann, der Gründer von „Aufstehen“, der der grünen Konkurrenz billigen Populismus vorwirft. Und selbst ein Kommentator der Zeit bescheinigt ihnen „kokette Unklarheit“.
Wer wird Kanzlerkandidat? Mit wem wird eine siegreiche grüne Partei koalieren? Was kosten ihre Versprechen? Es sind die immer selben Fragen, die seit den Erdrutsch-Erfolgen an den Grünen nagen und jede inhaltliche Debatte überlagern. Natürlich fragt man sich da, wie lange die Partei und ihr Spitzenpersonal den Hype aushalten. Bis jetzt hat er im Innern der Partei noch keine neuen Fronten aufgerissen.
Erfolg macht diszipliniert und einig, jedenfalls an der Oberfläche. Aber bis zum Herbst 2021 ist es noch lange hin – und ob der Applaus anhält, den Baerbock und Habeck zurzeit selbst bei Industriellenverbänden und Handwerkskammern kassieren, ist fraglich, wenn es konkreter werden muss. Und das wird sich kaum vermeiden lassen.
Gefangen im real existierenden Parlamentarismus
Tatsache ist: Es müssen ganze Systeme umgebaut werden, wenn dieses Land zukunftsfähig werden soll. Das Drehen an kleinen Rädern reicht nicht mehr: nicht beim Klimaschutz, sprich bei Landwirtschaft und Verkehr; nicht bei den Grundstückspreisen in den großen Städten; nicht bei der Digitalisierung und ihren Auswirkungen auf die Arbeitswelt; nicht in einer rasant alternden Gesellschaft; nicht bei der Regulierung der Migration.
Überall geht es um Systemwechsel, um die schmerzhafte Korrektur von eingespielten Erwartungen und Gewohnheiten. Und selbst, wenn man davon ausgeht, dass „es eine Sehnsucht danach gibt, dass etwas passiert, auch etwas Großes, woran man freudig teilhat“ (Habeck), nach einem Aufbruch also, dann ist es angesichts der zu erwartenden Weiterungen eines solchen Aufbruchs riskant, konkret zu werden.
Jedenfalls, wenn man in den Strukturen des real existierenden Parlamentarismus gefangen bleibt. Solange Wahlen aufgrund von konkurrierenden Wohlfahrtsversprechen gewonnen wurden, konnten die alten Volksparteien die großen Probleme nicht in der gebotenen Radikalität thematisieren, geschweige denn mit großen Reformen angehen.
Auch in sich waren sie gespalten: die CDU in Wertkonservative, Anhänger der christlichen Soziallehre und Wachstumsgläubige; die SPD in ökologisch Aufgeklärte, traditionelle Sozialpolitiker und New-Labour-Linke; und auch die Grünen: in Realos und Fundis, Freunde des grünen Wachstums und Radikalökologen.
Aufbruch braucht Bruch
Niklas Luhmann erkannte bereits 1994, dass diese Parteienordnung zu großen Reformen nicht fähig sei. Man müsste, so folgte es aus seiner Analyse, die existierenden Parteien gleichsam in der Mitte durchschneiden und neu zusammensetzen: in eine Partei der Weitermacher und eine, die es schafft, die Sorgen in Politik zu verwandeln, „die in den neuen sozialen Bewegungen zum Ausdruck kommen, Sorgen um Technikfolgen oder ökologische Probleme, oder Sorgen, die mit Migrationsproblemen, mit zunehmender Gewaltbereitschaft, mit Ghettobildung in den Städten zu tun haben“. Angesichts der Eigenlogik des Parteiensystems bleibt das freilich abstraktes Gedankenwerk.
Ein echter Aufbruch setzt einen Bruch mit der herrschenden Variante der politischen Entscheidungsfindung voraus. Große Systemveränderungen lassen sich nicht mit einfachen parlamentarischen Mehrheiten durchsetzen, sie bedürfen gesellschaftlich breit getragener Konsense. Und die erzeugt man nicht durch zweistündige Bürgerforen, aus denen die Spitzenpolitiker „Anregungen mitnehmen“. Sondern, indem man die Vertreter konfligierender Interessen zur Zusammenarbeit bringt, wie es der Soziologe Armin Nassehi erst jüngst in der taz vorschlug.
Wie könnte das aussehen – schon vor einem Wahlsieg? Ich stelle mir einen über zwei Jahre sich streckenden Probelauf für „grünes Regieren“ vor. In ihm würde die Partei, quer zu Organisationsgrenzen, Zukunftswerkstätten abhalten, in denen Spezialisten und Bürger mögliche Lösungen für die großen strukturellen Probleme erarbeiten, Zwänge und Ziele aneinander messen, Pfade der Reform erkunden. Einladen müssten die Grünen dazu die Aufbruchswilligen aus Verbänden, Gewerkschaften und Verwaltungen – denn die sind, wie die Parteien, schon lange gespalten in Strukturkonservative und Changemaker.
So könnten aufgeklärte Unternehmer und Gewerkschafter, Soziologen und Ökonomen sich ergebnisorientiert Gedanken über die Zukunft der Arbeit machen; Klimaforscher, Konsumenten, Landwirte und Ökologen über eine zukunftsfähige Agrikultur; Architekten, Investoren, Verkehrsexperten, Genossenschaftsgründer und Städtebewohner zusammen über den Umbau der Städte nachdenken.
Ein solcher langer Wahl-„Kampf“ der bürgerschaftlichen Vernunft schlösse die Lücke zwischen den Funktionseliten, den Bürgern und der Politik. Die Partei, die das unternähme, wäre, ganz im Geist des Grundgesetzes, Initiatorin verbindlicher gesellschaftlicher Willensbildungen. Das könnte eine neue Form des Regierens vorbereiten – notwendig in Zeiten großer Veränderungen. Professionell in Szene gesetzt, könnte das den Druck von den beiden Superstars nehmen, die gesellschaftliche Basis der Grünen erweitern und die dümmsten Attacken delegitimieren.
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