Die Gipfel des Balkans: Verfluchte Berge
In der Bergregion im Dreiländereck Kosovo, Albanien und Montenegro wurden die seit Hunderten von Jahren bestehenden Bergpfade zusammengelegt.
Gott brauchte sechs Tage, um Erde, Meer und Himmel zu erschaffen. Laut einer lokalen Legende brauchte der Teufel jedoch nur vierundzwanzig Stunden für die „Verfluchten Berge“. Die Bergregion im Dreiländereck Kosovo, Albanien und Montenegro war bis vor nicht allzu langer Zeit ein absolutes No-Go. Bekannt für unzugängliches Terrain, Banditen und Jugoslawienkrieg. Wer verrückt genug war, sich in dieses Territorium zu begeben, war selbst schuld.
Inzwischen hat sich viel verändert: Es ist Frieden eingekehrt. Die Region gilt als eines der schönsten Bergwandergebiete, die Europa zu bieten hat – und noch ist sie so gut wie unentdeckt. Sie bietet eine Vielfalt an Landschaften auf kleinem Terrain: ein bisschen Dolomiten, Alpen oder schottische Hochlandweiden; dramatisch, anspruchsvoll, einsam, dann wieder gemütlich – für jeden ist etwas dabei. Es ist eine Region für Entdecker und Abenteurer, denn der Tourismus steckt noch in den Kinderschuhen.
Seit 2011 besteht die 190 Kilometer lange zusammenhängende Wanderstrecke „The Peaks of the Balkans“ – die Gipfel des Balkans. Sie überschreitet Grenzen, verbindet, was einst verfeindet war. Vorarbeit leistete die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbei (GIZ). Sie half mit 310.000 Euro für Beschilderung und Karten, verhandelte mit Grenzbehörden über vereinfachte Grenzübertritte, und mithilfe des Deutschen Alpenvereins wurden Wanderführer ausgebildet. Ziel des Engagements: für die Menschen in dieser Region Einkommen zu schaffen, damit sie nicht abwandern.
Die Gegend kann auch auf eigene Faust bewandert werden. Doch Vorsicht: Das ist kein Gebiet für Anfänger! Oft begegnet der Wanderer stundenlang keiner Menschenseele; die Route ist auch nicht immer offensichtlich, und es besteht die Gefahr, sich zu verirren. Besser, sich Bergführer zur Seite zu nehmen, nicht nur als Beitrag, die heimische Wirtschaft zu unterstützen, sondern auch um einen ganz anderen Bezug zu dieser Region zu bekommen.
Anreise
Die klassische Route der „Peaks of the Balkans” beginnt und endet in Theth. Das Bergdorf auf 800 Meter Höhe ist in dreistündiger Taxifahrt auf abenteuerlichen Serpentinen von der nordalbanischen Stadt Shkodra aus gut zu erreichen. Der nächste Flughafen befindet sich in Tirana, die albanische Hauptstadt liegt 100 Kilometer südlich von Shkodra.
Übernachtung
In Berghütten, Gasthäusern oder Wochenendhaus der Einheimischen. Sehr einfache Unterkünfte, dafür ursprünglich und mit frisch zubereiteten Mahlzeiten.
Saison
Die beste Zeit für Bergwanderungen ist von Juni bis Oktober. Im Sommer kann es allerdings im Tal sehr heiß sein, in den Bergen ist es jedoch angenehm. Im Juni regnet es mehr, im Juli und August eher weniger; optimal sind die Monate September und Oktober. Doch Vorsicht: Bergwetter ist unberechenbar!
Die Tour
Für die „Peaks of the Balkans“ wird Reiseführung empfohlen. Sehr bewährt hat sich die Agentur Balkan Natural Adventure www.bnadventure.com/de/ mit Sitz im Kosovo. Sie hat sehr gut ausgebildete, auch deutschsprachige Bergführer. Es ist auch möglich, sich eine individuelle Reise zusammenstellen zu lassen.
Geschichtsträchtige Überreste
„Das Wetter kann hier jederzeit umschwenken, auch deshalb der Name ‚Verfluchte Berge‘“, erklärt Bergführer Adriatik. Er kommt aus dem Kosovo, hat BWL studiert und engagiert sich für den Naturschutz. Seine Hobbys sind Berge, Politik und Geschichte. Im Rucksack schleppt er die schwere gebundene Ausgabe von „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Er selbst ist eine nicht versiegende Quelle von Informationen und Geschichten, als hätte man einen Historiker zur Seite. Denn hier zu wandern heißt, immer auch mit Politik konfrontiert zu werden.
Der heute 27-jährige Kosovo-Albaner floh während des Jugoslawienkriegs für einige Zeit mit der Familie nach Albanien. „Eine Zeit lang versteckten wir uns im Wald, in Wäldern wie diesen“, zeigt Adriatik über das Tal. „Dank Nahrungsmittel, die von der UN abgeworfen wurden, haben wir überlebt.“
Assistentin Donika wurde nach dem Krieg geboren. Die 19-jährige Veterinärstudentin erinnert sich an die Carepakete ihrer Kindheit, die zu Weihnachten aus dem Ausland kamen. Das habe sie geprägt, gesteht sie. Die deutsche Wandersfrau hat keine Trekkingstöcke dabei? Just händigt Donika ihre eigenen aus.
Die Bergführer haben für alles eine Erklärung. Die Blumengirlanden um einen Fels sind zum Gedenken zweier von serbischen Scharfschützen getöteter albanischer Schafhirten. Die Flaggen am Berghang erinnern an die Befreiung des einen Landes vom anderen. Die vielen braunen Kühe auf der Bergwiese: eine Spende Dänemarks an Kosovo nach dem Krieg.
Phänomenale Landschaft
In einer besonders schönen Hochgebirgssektion seltsam anmutende Bauten – die Bunker des Diktators Enver Hoxka. Über 173.000 hat der albanische Diktator bauen lassen – aus Angst vor seinen Nachbarn. Je mehr Storys, desto verstörender wird die Gegend. Doch dafür entschädigt die immer wieder phänomenale Landschaft.
Eine klassische „Peaks of the Balkan“-Tour dauert zehn Tage und beginnt und endet im albanischen Bergdorf Theth. Wenige Hundert Meter hinter den Häusern steigt der Wanderweg steil an und führt über einen von vielen Pässen auf dieser Strecke. Durch imposante Gebirgslandschaften, die den Dolomiten Konkurrenz macht, wild und unberührt. Hier verstecken sich Wölfe, Bären und die seltenen Balkanluchse, erzählt Adriatik.
Ein andermal Blick von einem Pass in drei Länder gleichzeitig. An manchen Tagen Überqueren von acht Landesgrenzen. Wie der Name der Tour verrät, geht es auch um die Besteigung der Gipfel, darunter Kosovos höchstem, dem Jezerca mit 2.656 Höhenmetern. Hinterher zur Abkühlung Sprung in einen kobaltblauen Bergsee.
In luftiger Höhe trifft der Wanderer auf eine alte Hirtenkultur. Denn diese Wanderstrecke ist eben auch eine Zusammenlegung von seit vielen Hundert Jahren bestehenden Bergpfaden. Ein Mann sitzt auf einem Felsvorsprung und spielt eine Hirtenflöte. Woanders liegen zwei junge Männer im Gras und rauchen, ihre Schafe über die Hänge verstreut. Auf einer Hochebene ein altes Steinhaus mit Steinmauern, hinter denen abends Schafe schlafen. Bei der Frau des Schäfers gibt es frisch aufgebrühten Bergkräutertee. Am späten Nachmittag ziehen ihr Mann sowie weitere Hirten und Hunderte von Schafen über die Berge nach Hause.
So auch Zog und Mustafa. Im Tal sind sie Nachbarn, im Sommer bringen sie ihre 400 Schafe in die Berge. Sie produzieren Schafskäse. Alle drei Tage wird der mit einem Esel ins Tal gebracht, entlang einer sehr steilen, mehrstündigen Sektion des Wanderwegs. Die Schüssel Schafmilchjoghurt kostet 100 Lek (0,81 Euro), manchmal gibt es auch frisch gepflückte Blaubeeren. Ganze Berghänge sind davon bewachsen und laden unterwegs immer wieder zum Naschen ein.
In den Tälern entlang der Route stehen rustikale Berghütten und Gästehäuser zum Übernachten – noch gibt es keine Hotels. Im albanischen Valbonatal empfängt Familie Jupani im schönen alten Holzhaus. Drumherum Obstbäume, Maisfeld, Wiesen mit Heuschobern, blökende Kälber und 50 meckernde Ziegen. Blick auf eine beeindruckende Bergkette vor breitem ausgetrockneten Flussbett. Das Essen kommt vom Hof: Ziegenfleisch, Brot, Käse, Eier, Honig von den Bienstöcken im Garten. Das albanische Bergdorf Dobërdol erinnert an Schottland. Hier gibt es im erst 2019 fertiggestellten '„Guesthouse Leonardi“ warmen Walnusskuchen zum Nachtisch. Im Kosovo Übernachtung im Wochenendhaus von Familie Ahmeixhekaj: Vater, Mutter und drei Söhne bekochen die Gäste. Im montenegrinischen „Eco-Mountaineering Village“ am wunderschönen Hrid-See bewirten zwei Männer. Geschlafen wird in urigen „Hundehütten“ mitten im Wald, gegessen in der Küche an einem langen Tisch.
Der letzte Tag führt vom montenegrischen Vusanje zurück nach Theth, noch einmal durch Hochgebirgslandschaft, so grandios schön, man möchte für immer verweilen. Doch Bergführer Adriatik drängt, es ziehen Wolken auf. Nach neun Schönwettertagen schwenkt das Wetter binnen kurzer Zeit um: Starkregen, Donner, Blitze. Nach und nach verschluckt der Nebel Berge, Wälder, Menschen und Stimmen. Im Nu ist man verirrt. Wo ist hinten, wo ist vorne? Es ist unheimlich. Zum Glück treten Adriatik und Donika aus dem dunklen, dampfenden Wald. „Schnell, schnell“, treibt er an, das Wetter ist unberechenbar, wir müssen vom Berg – diese „Verfluchten Berge.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste