piwik no script img

Die Geschichte Zagrebs im RomanMonster werden sichtbar

Alles schwankt in Miljenko Jergović’ Roman „Ruth Tannenbaum“, der von Antisemitismus im Zagreb der Zwischenkriegszeit erzählt.

Zagreb heute, die Ilica Straße Foto: Antonio Bronic/reuters

Die Zagreber Bürger sollten dem Schriftsteller Miljenko Jergović dankbar sein. Mit seinem Roman „Ruth Tannenbaum“ hat er ihnen ein Porträt über eine Zeit geschenkt, die vergleichsweise unbeschrieben und deswegen mythisiert ist: die sogenannte Zwischenkriegszeit, die kurze Gefechtspause, in der politisch einiges versucht und alles schiefgegangen ist.

Jergović’ Roman steigt gleich mit einer krassen Szene ein, die eher an Krieg als an Frieden erinnert: Eines Tages im Jahr 1920 betritt Salomon Tannenbaum seine Zagreber Stammkneipe, den Österreichischen Kaiser. Statt wie üblich von seinen Zechkumpeln begrüßt zu werden, wird Tannenbaum verprügelt, verschleppt, gefoltert und muss auf Händen nach Hause gehen, da ihm die Haut auf den Fußsohlen weggeschlagen worden war. Wie üblich hatte er beim Betreten der Kneipe den österreichischen Kaiser gegrüßt. Der aber hatte seit Neuestem nicht mehr das Sagen in Kroatien. Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen war an seine Stelle getreten.

Die Gewalt, die mit dem Wechsel politischer Machthaber verbunden ist, verlagert sich in Nichtkriegszeiten vom Schlachtfeld in die Kneipen, auf die Straßen, in die Wohnungen und Treppen-, Theater-, Opern- und Klohäuser der Städte.

Vergessen wollen

Der Roman "Ruth Tannenbaum"

Miljenko Jergović: „Ruth Tannenbaum“. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling, Frankfurt/Main 2019, 448 Seiten, 26 Euro

Lesung: 26. 11., 20 Uhr, Literarisches Zentrum Göttingen

Jergović porträtiert eine Zeit, in der alles schwankt. Es wechseln die politischen Systeme, es wechseln die Identitäten und Wertigkeiten. Die Rahmenhandlung des Romans erzählt von Ruth, Salomons Tochter. Eben noch ein gefeierter Kinderstar der Zagreber Theaterwelt, darf sie, noch bevor sie richtig groß werden kann, auf einmal nicht mehr auf die Bühne und in die Schule – der neuen Machthaber wegen, der kroatischen Faschisten.

Die Tannenbaums sind Juden. Das Schicksal der kleinen Ruth ist lose angelehnt an „die kroatische Shirley Temple“, in den 1930er Jahren in Zagreb ein gefeiertes Kinderwunder. Sie hieß Lea Deutsch, wurde 1927 in Zagreb als Tochter jüdischer Bürger geboren, spielte schon mit 5 Jahren Shakespeare und Molière und wurde mit 16 Jahren nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Sie sind Mitläufer und Mittäter, ohne irgendeiner Partei angehörig zu sein, getrieben von Angst, Neid, Hass

„Ruth Tannenbaum“, schreibt Miljenko Jergović in seinem Nachwort, „ist nicht Lea Deutsch“. Es habe ihn zwar gereizt, über die echte Schauspielerin zu schreiben. Aber da es kaum Informationen über sie gebe, nicht mal eine Schule oder Straße nach ihr benannt wurde, ganz Kroatien sie offenbar vergessen wolle, habe er sich dagegen entschieden.

Tatsächlich ist Ruth Tannenbaum nur die Nebenfigur des nach ihr benannten Romans. Viel eher im Zentrum stehen ihre Eltern und die Nachbarn, die Schauspieler, Opernsänger, Kneipenwirte und Kneipengäste, Bahnhofsvorsteher und Zirkusbetreiber, die Katholiken, Orthodoxen und Juden mit ihren Vorurteilen und Ressentiments. Sie sind Mitläufer und Mittäter, ohne irgendeiner Partei angehörig zu sein, sie sind getrieben und durchsetzt von Angst, Neid, Hass, Schuldgefühlen, Boshaftigkeit, Arroganz und Ignoranz.

Niemand, nicht mal die kleine Ruth mit ihren großen Augen, ist eine Figur, die man als Leserin wegen ihrer Schrullen sympathisch finden könnte. Was andere als Schrullen verniedlichen würden, sind bei Jergović immer misogyne und boshafte Elemente. Oder auch: die ganz normalen Abgründe durchschnittlicher Bürger einer durchschnittlichen europäischen Stadt.

Aus welchen Beständen das Gift sich nährt

Zwar geht es in dem Roman zentral um den in der Zwischenkriegszeit immer aggressiver werdenden Antisemitismus. Aber noch viel eher geht es darum, aus welchen Bestandteilen sich dieses Gift immer wieder nähren kann und alle zu Irren, Idioten und Mördern machen kann, einfältige Trinker, belesene Kulturbürger, jüdische Gemeindevertreter.

Salomon Tannenbaum wehrt sich sein Leben lang dagegen, Jude zu sein, aber weder die Juden noch die Nichtjuden lassen ihn in Ruhe. Und so fährt er allabendlich in Spelunken am Rande der Stadt und gibt sich dort als katholischer Geistlicher Emanuel von Keglević aus. Nur hier und nur hinter dieser Maske fühlt er sich als „einer von ihnen“ akzeptiert. Der Preis, den er dafür zahlt, ist hoch. Er wird eine vierköpfige Familie auf dem Gewissen haben.

„Salomon Tannenbaum wollte Teil des Volkszorns sein, nicht dessen Opfer“, beschreibt Jergović gewohnt lakonisch die Motive seines Protagonisten.Tannenbaums Schwiegervater Abraham Singer, den er so hasst, weil er ihn immer wieder zum Juden macht, wird am Ende recht behalten: Der brutale Einstieg in den Roman korrespondiert mit seinem mörderischen Ende. Der Faschismus beginnt und treibt nur aufs Äußerste, was schon da war.

Jergović’ Roman wurde bei seinem Erscheinen 2006 in Zagreb nicht sonderlich gut aufgenommen. Man empfand es als Schande und Diffamierung der Stadt. Ausgerechnet von einem Autor, der 1992 vor dem Krieg in Sarajevo nach Zagreb geflohen und hier aufgenommen worden war.

Dabei ist der kroatische Autor Miljenko Jergović seit dem frühen Erzählungsband „Sarajevo Marlboro“ von 1994 für seine meisterhaft präzise Ausleuchtung der menschlichen Schmuddelecken bekannt. Auch wenn er das mit leichter Hand und großem Witz präsentiert: Dort, wo Jergović Licht anmacht, werden Monster sichtbar, die sich sonst bestens verstecken. Jergović’ großes literarisches Talent schafft es, diese Monster so zu inszenieren, dass sie, obwohl äußerst befremdlich, nicht fremd erscheinen. Es sind eben unsere Monster, die menschlichen Abgründe, die wir alle kennen, aber nicht gern benennen. Das aber muss man, zumindest um nicht überrascht zu sein, wenn sie wieder ausreichend gefüttert wurden, um die Kontrolle zu übernehmen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!