Die EU und ihre Antwort auf Corona: Die Magie europäischer Politik
Die Pandemie offenbart so manche unbequeme Wahrheit über die Europäische Union – so wie das Fehlen einer gemeinsamen Stimme.
Wofür ist Europa gut – wenn nicht dafür, die BürgerInnen vor einer bedeutenden grenzüberschreitenden Bedrohung wie einer Pandemie zu schützen?
Inmitten des Covid-19-Ausbruchs scheint die einstmals etwa von Frankreichs Präsident Macron vorgebrachte Vision von der Europäischen Union als einer zusammenhängenden politischen Gemeinschaft, die ihre 450 Millionen europäischen BürgerInnen schützt und verteidigt, ferner denn je. Was aber bedeutet dies für die EU? Ist das europäische Projekt an sich mangelhaft?
Nein, die Schuld für Europas sub-optimale, unkoordinierte Antwort auf die Covid-19-Krise liegt woanders: Das große Hindernis für die Fähigkeit der EU, Probleme zu lösen, sind unsere nationalen politischen Systeme – und die zugehörigen politischen Klassen. Die traditionelle Parteienpolitik täuscht weiterhin vor, von Migrationspolitik bis zum Klimawandel alles auf nationalem statt europäischem Level steuern zu können. Doch wie die europäische Antwort auf Covid-19 gezeigt hat, ist das pure Fiktion.
Manche Länder wie Deutschland mögen insgesamt zufrieden damit sein, wie der Notfall innenpolitisch gehandhabt wurde. Doch weder Deutsche noch andere EU-BürgerInnen können ignorieren, dass sie zu einer größeren Schicksalsgemeinschaft gehören. Denn was die einzelnen Mitgliedsstaaten tun oder unterlassen, um Covid-19 einzudämmen, beeinflusst die Wirksamkeit der Strategien der anderen Mitglieder.
Viele Missverständnisse, Skepsis und Anfechtungen
Doch obwohl auf dem Kontinent eine beispiellose wechselseitige Abhängigkeit erreicht ist, bleiben die Staats- und Regierungschefs nur ihren BürgerInnen verantwortlich – nicht aber den EU-BürgerInnen jenseits ihrer Grenzen. Das offenbart eine unbequeme Wahrheit: Das politische System Europas hat die Auswirkungen der europäischen Integration auf den Alltag der Menschen nie verinnerlicht. Im täglichen Leben der EU-BürgerInnen dagegen sind diese längst angekommen – ob es um Lebensmittelsicherheit geht, um Datenschutz oder Luftqualität.
Die Diskrepanz zwischen dieser europäischen Realität und der nationalen Politik in der EU sind das Kernstück vieler Missverständnisse, der Skepsis und der Anfechtungen des europäischen Projekts. Das zu akzeptieren, bedeutet nicht nur, den antieuropäischen Backlash anzuheizen, der sich etwa in Italien und Spanien bildet. Es bedeutet auch, Länder wie Ungarn und Polen zu befähigen, demokratische Normen wie eine unabhängige Justiz und freie Presse anzufechten.
Auch nach 70 gemeinsamen Jahren gibt es noch keinen verständlichen, gesamteuropäischen Prozess, der die gemeinsame Antwort auf gemeinsame Herausforderungen bestimmt. Stattdessen sind es oft die innenpolitischen Querelen in den Mitgliedsstaaten – so willkürlich, so zufallsgetrieben diese auch sein mögen.
Das kann so nicht bleiben. Die EU kann nicht weiterhin die Verantwortung für das Tun oder Unterlassen schultern, über das sie keine oder kaum Kontrolle hat – wobei zugleich von ihr erwartet wird, den Schutz für eine breite Öffentlichkeit zu gewährleisten. Stattdessen müssen die Mitgliedsstaaten klarstellen, wo ihre Verantwortung beginnt und die der Union endet – und vice versa.
Eine der wesentlichen Lektionen des letzten Jahrzehnts
Um die EU zugänglicher für die Anliegen der BürgerInnen zu gestalten, und das auch ohne eine Reform ihrer Gründungsverträge, braucht Europa seinen eigenen politischen Raum. Ihn müssen die europäischen – und nicht die nationalen – PolitikerInnen besiedeln, die von einer neuen Generation transnationaler AktivistInnen zur Verantwortung gezogen würden.
Es mag einigen unrealistisch erscheinen, eine Union von demografisch und wirtschaftlich heterogenen Staaten in eine voll ausgebildete parlamentarische Demokratie umzuwandeln. Doch das ist eine der wesentlichen Lektionen des letzten Jahrzehnts: Wer Entscheidungen mit grenzüberschreitender Bedeutung trifft, muss auch aus einem grenzüberschreitenden Wahlprozess hervorgehen.
Die Schaffung eines einzigen, EU-weiten grenzüberschreitenden Wahlkreises für die Wahlen zum Europaparlament könnte zur Entstehung eines echten europäischen Parteiensystems führen. Plötzlich würde eine Deutsche, die für die CDU stimmt, erkennen, dass ihre Stimme auch an die Mitglieder der Europäischen Politischen Partei der CDU geht – wie etwa im Fall von Viktor Orbáns Partei Fidesz. So ein Wahlsystem würde die europäischen politischen Parteien zudem dazu bringen, auf dem gesamten EU-Gebiet ein- und dasselbe Wahlprogramm vorzustellen und eine einzige Kandidatenliste – im Gegensatz zu derzeit 27.
Alberto Alemanno, 45, ist Professor für Europarecht an der Hochschule École des hautes études commerciales in Paris sowie Aktivist.
Gäbe es wahrhaft transnationale Euro-Parteien, wäre es für WählerInnen auch einfacher zu sehen, wo im politischen Spektrum der EU sich ihre jeweiligen nationalen PolitikerInnen verorten, und mit wem sie zusammengehen – wie im Fall von CDU und Fidesz. Nur so würden die Auswirkungen ihrer WählerInnenstimme auf europäischer Ebene deutlich – und die politischen Akteure endlich für ihr Handeln verantwortlich, sowohl zu Hause im eigenen Land als auch in der EU.
Im Gegenzug wäre der Weg frei für das langsame Entstehen einer EU-Öffentlichkeit. Das Hervortreten dieses neuen politischen Raums würde außerdem neue paneuropäische Formen des Aktivismus nähren, die auf transnationaler Solidarität gründen.
Die Trennung in lokal, national oder Europa wäre verwischt
Was bisher wie ein regionales Problem wirkte, wie der Zugang zum Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen oder öffentliche Verkehrsmittel, wäre europäisiert – weil deutlich wird, dass es überall auf dem Kontinent auftritt. Was bisher eher als abstraktes europäisches Problem galt, sei es Netzneutralität oder gemeinsame Datennutzung, würde auf lokaler Ebene greifbar. Die künstliche Trennung in lokal, national oder Europa – sie wäre auf einmal verwischt.
Um das zu erreichen, könnten BürgeraktivistInnen auf das gesamte Beteiligungsspektrum der EU-setzen. Denn viele Möglichkeiten sind trotz ihres demokratischen Potenzials weitgehend unbekannt.
Das Entstehen eines echten europäischen politischen Raums könnte sicher nicht auf magische Weise alle Herausforderungen der Zeit beheben. Doch würde es das europäische Projekt erreichbar und handlungsfähig machen für die Anliegen der BürgerInnen, indem es verständlicher und zugänglicher würde.
Ja, Europa braucht dringend eine eigene Politik.
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