Die Allmacht der Mehrheit

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Soll die revolutionäre BRD Österreichbeitreten? Doch noch die großdeutsche Lösung?

Da die Mehrheit die einzige Macht ist, der zu gefallen wichtig ist, wirkt alles eifrig an ihren Unternehmungen mit; sobald sie aber nicht mehr hinsieht, ruhen sofort alle Anstrengungen ... Alexis de Tocqueville, „Über die Demokratie in Amerika“, 1835

Angesichts des Ergebnisses sind wieder einmal die Demoskopen die großen Verlierer des Geschehens. Sie hatten übereinstimmend ein Kopf-an-Kopf-Rennen der großen Parteien in Österreich vorausgesagt. Süddeutsche Zeitung“, 25. November 2002

Tocquevilles von Erstaunen, ja Verblüffung durchdrungener Reisebericht über die amerikanische Demokratie – weil sie funktioniert – gehört zu den Klassikern, die endlich mal zu studieren lohnt.

Der liberale Aristokrat mit konservativen Neigungen (oder umgekehrt) konnte kaum glauben, was er sah, dass man tatsächlich die politische Zentralgewalt aus den Händen eines Königs nehmen und restlos den Bürgern überantworten könne. Es ehrt ihn (und macht das Buch so lesenswert), dass er sich seinen Beobachtungen anvertraut hat, statt sie durch seine politischen Grundüberzeugungen umzuarbeiten.

In der Bundesrepublik der Fünfzigerjahre, als sich unter amerikanischem Patronat die Demokratie zögernd etablierte, galt Tocqueville als ihr Gegner. Die Sache mit der Allmacht, gar der Tyrannei der Mehrheit ist mir noch aus dem Schulunterricht im Ohr. Man redete darüber gleichsam flüsternd, hinter vorgehaltener Hand, wie man sagt: Ob es nicht doch eine Autorität jenseits der demokratischen Abstimmungsprozesse brauche, die der Kritik und der Auswechslung enthoben sei?! Klar, die Erfahrungen mit dem Führer waren die schlechtesten. Aber deshalb gleich das Kind mit dem Bade ausschütten? Und: War Hitler nicht durch allgemeine Wahlen an die Macht gekommen? Weshalb die Väter des Grundgesetzes gewisse seiner Artikel unantastbar machten.

Das (leicht kokette) Reden über die Allmacht, gar Tyrannei der Mehrheit hörte man, wenn ich mich korrekt erinnere, eher auf der rechten Seite (kokett, weil die Mehrheitsverhältnisse unabänderlich schienen: 1957 gewann Bundeskanzler Adenauer die absolute Mehrheit im Parlament; sogar mein Vater hatte CDU gewählt). Die Linke dagegen, tief versponnen in Gesinnungsethik und gute Absichten, war von Restabsolutismus frei. Wer heute Zweifel am Mehrheitsprinzip äußert, das sind aber weder Linke noch Rechte; in der Regel sind es versprengte Geistesaristokraten und gekränkte Feuilletonisten, die sich Sorgen um die Hochkultur machen, weil der Rang Fischer von Erlachs oder Guillaume Postels keineswegs durch Mehrheitsentscheidungen festgelegt werden könne. Sondern einzig durch Geistesaristokraten und Feuilletonisten (denen auch die massentouristische Bewunderung für Fischer von Erlachs Bauten in Wien und Salzburg Verachtung einflößt).

Im Übrigen erfüllte sich Tocquevilles Prognose: Die demokratischen Verfahren selbst sind es, die die politische Allmacht, womöglich Tyrannei der Mehrheit unter Kontrolle bringen. Was die Mehrheit will, steht ja keineswegs ein für allemal fest; man muss andauernd Mehrheiten zu gewinnen versuchen und kann dabei sehr wohl verlieren.

Was aber seit längerem in diesem Prozessen mitspielt, das sind imaginäre Mehrheiten. Leicht erkennt man sie in kulturkritischen Diskussionen: dass ihnen – früher gern „die breite Masse“ genannt – Fischer von Erlach, wie gesagt, komplett schnurz ist, dass sie am liebsten bei McDonald’s essen und RTL 2 schauen et cetera. Der Kulturpessimismus liebt besonders zukünftige (und deshalb erst recht imaginäre) Mehrheiten. Wenn wir ihnen jetzt nicht auf der Stelle das Instrumentarium zu entwickeln untersagen, wird die Mehrheit in Deutschland beschließen, alte Leute durch Sterbehilfe zu entsorgen oder Babys als Ersatzteillager für Organspenden zu züchten. Die Allmacht der Mehrheit, vor der sich der Kulturpessimist grundsätzlich fürchtet, wird es gegen alle Widerstände durchsetzen.

Besondes auffällig wurden in diesem Jahr aber die imaginären Mehrheiten, mit denen die Demoskopie operiert. Mit ihren Prognosen blamierte sie sich ja – wie jetzt in Österreich – bei der Parlamentswahl gründlich. Allensbach erklärte, so habe ich es mir gemerkt, die Voraussagen der anderen Institute verwirrten die Wähler und deshalb wählten sie nicht entsprechend Allensbach. Wäre es da nicht besser, Allensbach löste das Volk auf?

Aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist aber vor allem: dass Allensbach als einziges Institut – wenn ich nichts übersehen habe – den Fehler überhaupt zu erklären versuchte; dass die Demoskopen nach den Prognosen keineswegs insgesamt reumütig zu verstehen versuchten, was sie falsch gemacht hatten. Die Demoskopie wirft weiterhin ihre Mehrheiten aus, regelmäßig, und weil keine Bundestagswahlen stattfinden, bleibt ungeprüft, ob die Voraussagen stimmen.

Es kommt mir so vor, als wäre der Unterschied zwischen den imaginären Mehrheiten – die auch Bild und BZ und ihresgleichen regelmäßig entdecken – und einem Wahlergebnis ganz und gar unwichtig. Dass die Demoskopen für den Bundeskanzler gerade schlechte Popularitätswerte ermitteln, in der Imagination des Doktor Stoiber malt sich das so ab, als habe er die Bundestagswahlen gewonnen. Und nicht nur in der Imagination des Doktor Stoiber. Eine allgemeine Zeitung für Deutschland – habe ich mir erzählen lassen – fordert quasi eine Revolution, um die imaginären Mehrheitsverhältnisse, wie die Demoskopen sie gerade darstellen, in eine Art Wahlergebnis zu verwandeln; nachdem Doktor Schirrmacher weder die Genforschung noch die Veröffentlichung eines Romans von Martin Walser verhindern konnte, möchte er jetzt wenigstens die Bundesregierung stürzen. Wobei mir besonders der Gedanke gefiel: Die BRD der Gegenwart brauche die DDR-Revolution von 89. Bekanntlich führte sie zum Beitritt. Und wo soll die revolutionäre BRD beitreten? Österreich? Doch noch die großdeutsche Lösung?

Heute zweifeln weder Linke noch Rechte am Mehrheitsprinzip, sondern gekränkte Feuilletonisten

Was sich gegenwärtig hier und da kräftig auswirkt, will ich sagen, das ist weniger die Allmacht, gar die Tyrannei der Mehrheit. Es geht um die imaginären Mehrheiten, die immer wieder ins Spiel gebracht und so traktiert werden, als seien sie vom selben Stoff wie handlungsfähige Parlamentsmehrheiten. Jeden Monat mindestens einmal Bundestagswahl.

Gewöhnlich folgen auf solche Beobachtungen Klagen und Befürchtungen. Wirklichkeit und Imagination unterscheiden zu können, ist schließlich eine Basisoperation; sogar Tiere können das. Politikprofessoren könnten uns vermutlich erklären, wie die Konfusion der aktuellen Regierungsarbeit auf eben jenes öffentliche Spiel mit imaginären, von der Demoskopie erfundenen Mehrheit zurückgeht; „sie wollen es zu vielen recht machen“. Umfragen und Regierungsarbeit strikt trennen!, rät der Politikprofessor. Wenigstens zeitweise.

Und dann gibt es noch zu bedenken, dass vermutlich die rechte Seite, die in der Bundesrepublik so lange verlässlich über die Parlamentsmehrheit verfügte, das für einen Naturzustand hielt. Einfach mehr Tocqueville lesen!