Diagnose Long Covid und ME/CFS: „Das Krankheitsbild macht unsichtbar“
Fabian Fritz trat gerade eine Professur an, als er an Long Covid erkrankte. Heute bekommt der 38-Jährige Rente und kämpft gegen Stigmatisierung.
taz: Herr Fritz, Sie werden am Donnerstag im Hamburger Gesundheitsausschuss in einer öffentlichen Anhörung über die mangelhafte Versorgungslage von Menschen sprechen, die an Long Covid und ME/CFS erkrankt sind. Was wollen Sie dort erreichen?
Fabian Fritz: Ich spreche da für den Verband Fatigatio, der sich für ME/CFS-Erkrankte einsetzt. Wir haben entschieden, dass ich in den Ausschuss gehe, weil ich so ein Prototyp-Fall bin. Ich stehe für die Fehlbehandlungen, aber auch für die Erkenntnis, dass es mit medikamentöser Begleitung zwar keine Heilung, aber eine Verbesserung geben kann. In Hamburg gibt es nicht mal eine Anlaufstelle für postinfektiöse Erkrankungen. Hamburg ist die Hochburg der Psychosomatik.
taz: Die Versorgung ist hier also aus Ihrer Sicht besonders schlecht?
Fritz: Hamburg gehört neben Bremen und Sachsen-Anhalt zu den einzigen Bundesländern ohne Long-Covid-Ambulanzen für Erwachsene. Es gibt in Hamburg nur BG-Kliniken für Fälle von Berufskrankheit. Und zu meiner Geschichte gehört, dass ich das Bundesland wechseln musste und nach Thüringen gegangen bin, weil mein Hausarzt in Hamburg gesagt hat: Gehen Sie weg, hier werden Sie nichts erwarten können.
38, Sozialpädagoge, hat an der Uni Hamburg über englische Sportvereine und deren Potenzial zur Demokratiebildung promoviert, war Lehrbeauftragter an der HAW Hamburg und Jugendbildungsreferent beim Museum für den FC St. Pauli. Er hatte kurz eine Professur an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen inne, erkrankte dann an Long Covid und zog im September 2024 zu seinem Bruder und dessen Familie nach Thüringen, ins Kinderzimmer seiner Nichte. Kürzlich ist er wieder nach Hamburg zurückgekommen. Er engagiert sich in der Hamburger Gruppe von Fatigatio, einer deutschen Patientenorganisation für Menschen, die an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom, kurz ME/CFS, erkrankt sind.
taz: Sie haben es auf der Plattform X mal so formuliert: „Ich bin 37, Single, wohne im Kinderzimmer meiner Familie. War kurz Professor. Lebe wieder in der alten Heimat. Bald in Rente. Mir ist nicht wurscht, was in fünf oder zehn Jahren in diesem Land abgeht. Ich bin aber jetzt schon raus und lebe dann vielleicht nicht mehr. Ich habe #longcovid.“ Wie geht’s Ihnen heute?
Fritz: Das habe ich Ende letzten Jahres geschrieben, ich war ab Oktober 2024 zu 95 Prozent bettlägerig und hatte eigentlich keine Hoffnung mehr, dass es irgendwie besser wird. Und dann bin ich durch Glück in eine Studie gekommen, die Medikamente getestet hat, die bei mir auch noch angeschlagen haben. Das war ein großer Unterschied zu der Aktivierungstherapie, die ich vorher machen musste und die vielen ME/CFS-Betroffenen verschrieben wird.
taz: Anstrengung ist beim ME/CFS eher schädlich?
Fritz: Genau, mir ging es bis zu meinem ersten Tagesklinik-Aufenthalt in der Psychosomatik gar nicht so schlecht. Dort habe ich mich darauf verlassen, dass es schon stimmen wird, wenn sie sagen: Sport tut gut. Aber diese Aktivierungstherapie hat mich erst mal bettlägerig gemacht. Seit ich die Medikamente nehme, bin ich wieder so bei 30 Prozent meiner Leistungsfähigkeit von vor der Erkrankung.
taz: Das ist immer noch wenig.
Fritz: Und es geht ja auch um kognitive Einschränkungen. Manche können vom Bett aus arbeiten, ich kann das eher weniger, weil ich mich nicht länger als eine Stunde auf einen Text konzentrieren kann. Die meisten Menschen können sich gar nicht vorstellen, was diese Krankheit bedeutet.
taz: Ist das der Grund, warum Sie auch mit Ihrer Erkrankung an die Öffentlichkeit gegangen sind?
Fritz: Das hat eher mit der Stigmatisierung zu tun, der ich zuvorkommen wollte. Als ich damals erkrankt bin, wurde in meinem kollegialen Umfeld gesagt: Ach, der hat bestimmt ein Burn-out, typisch junger Akademiker, der schafft seinen neuen Job nicht, dem wird das alles zu viel. Statt zu sagen: Oh, Mist, der hat jetzt Long Covid. Das hat mich extrem gestört, weil ich gemerkt habe, wie unsichtbar das Krankheitsbild gemacht wird. Dagegen wollte ich was unternehmen und ich hatte eine recht gute Reichweite damals.
taz: Reichweite über den FC St. Pauli, dort haben Sie als Jugendbildungsreferent im Vereinsmuseum gearbeitet.
Fritz: Ja, wir haben eine Kampagne gestartet, mit dem Ziel, die Stadien als Plattform für ME/CFS zu nutzen. Da haben sich auch so schnell so viele andere Erkrankte gemeldet. Das ist immer der Effekt: Sobald man irgendeinen Bereich neu betritt, kommen mindestens gleich so fünf, sechs Betroffene aus ihrer Unsichtbarkeit heraus.
taz: Welche Hilfe bräuchte es denn?
Fritz: Ich sehe drei Standbeine: Es braucht Differenzialdiagnostik, eine langfristige medizinische Versorgung und so eine Art, ja, wie soll man das nennen, so eine Begleitung in der gesellschaftlichen Bearbeitung der Stigmatisierung, die man erfährt. Und natürlich braucht es viel mehr Forschung zu den biologischen Ursachen.
taz: Und wie sollte das aussehen: Stigmatisierung begleiten?
Fritz: Ich würde mir wünschen, dass man einfach einen Status bekommt wie jemand, der Krebs oder MS hat. Dann kann man offen reden. Und es fehlt eine öffentliche Kampagne, beispielsweise so, wie es sie damals für HIV/Aids gab, mit Plakaten an Bushaltestellen und so. Denn mit der Erkrankung, die wir haben, wird man doppelt stigmatisiert: Man kriegt die volle Ladung Ressentiments gegen psychisch Erkrankte ab, obwohl man gar nicht psychisch krank ist, und muss gleichzeitig dafür kämpfen, richtig diagnostiziert zu werden.
taz: ME/CFS läuft ja immer noch auch unter dem Begriff „Erschöpfungserkrankung“. Ist der Begriff ein Problem? Jeder ist ja mal erschöpft.
ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Das ist eine neuroimmunologische Erkrankung, die nach einer Infektionskrankheit wie zum Beispiel Covid-19 beginnt.
Die Symptome reichen von Konzentrationsstörungen und Kopfschmerzen über Herzrasen, Blutdruckschwankungen bis zu ausgeprägter Muskelschwäche und Muskelkoordinationsstörungen. Dazu kommen Schlafstörungen, starke Krankheitsgefühle, schmerzhafte und geschwollene Lymphknoten, Atemwegsinfekte und eine erhöhte Infektanfälligkeit.
Charakteristisch für ME/CFS ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM), eine anhaltende Verstärkung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung. Schon alltägliche Aktivitäten wie Zähneputzen oder Kochen können zur Tortur werden.
Vor der Coronapandemie war bundesweit von rund 250.000 ME/CFS-Erkrankten die Rede. Die Zahl hat sich seit Corona mindestens verdoppelt, es gibt auch Schätzungen, die von knapp 2,5 Millionen Betroffenen ausgehen. Die Dunkelziffer ist hoch.
Laut Fatigatio, einem Verein für Menschen, die ME/CFS erkrankt sind, wurden in Hamburg seit 2018 bei 42.000 Hamburger*innen ME/CFS und seit 2021 bei 65.000 Post-Covid gesichert neu diagnostiziert. Sie berufen sich auf Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg.
Fritz: Erschöpfung ist ja das geringste Problem, im Gegensatz zu den neurologischen Symptomen wie eben Dauerschwindel, Tinnitus, nicht aufstehen können, weil der Puls dann bis 220 hochgeht oder so was. Deswegen würde ich da zustimmen. Erschöpfung ist einfach ein Begriff, der ein bisschen niedlich ist und die Erkrankten in die Nähe von „Ich habe schlecht geschlafen und fühle mich heute nicht ganz so fit“ rückt. Außerdem wird die Erkrankung historisch Frauen zugeschrieben, die gerne als hysterisch oder eben erschöpft stigmatisiert werden. Aber die Leute stehen nicht mehr auf, weil ihr Körper das gar nicht aushält.
taz: Sie beschreiben einen dauerhaften Mangel. Mangel an Lebensqualität, an gesundheitlicher Versorgung, an Unterstützung. Wie sieht es finanziell aus?
Fritz: Ich war vorher ganz gut situiert, aber noch zu jung, um richtig Rücklagen anlegen zu können und jetzt bin ich von Armut betroffen. Ich bekomme etwa 800 Euro Rente ausbezahlt und habe gerade einen Antrag auf Wohngeld gestellt. Gleichzeitig bin ich wegen der Erkrankung nicht so gut in der Lage, die ganzen Anträge zu stellen. Und selbst wenn ich jetzt zum Beispiel den Zugang zu so etwas wie der Tafel bekommen könnte, könnte ich da ja gar nicht hingehen, um mir die Lebensmittel abzuholen.
taz: Wen trifft es noch?
Fritz: Am schlimmsten trifft die Krankheit alleinerziehende Mütter, die ihre Restenergie, wenn sie die noch haben, für die Kinder aufbringen müssen und vielleicht vorher schon prekär gelebt haben. Und natürlich diejenigen, die als Kinder und Jugendliche erkranken und zum Teil direkt in die Grundsicherung fallen werden. Wenn es jetzt diese politisch angekündigten Verschärfungen gibt, wie die Abschaffung der Pflegegrade und so etwas, wird es weite Teile der Betroffenen noch mehr in Armut stürzen. Denn viele bekommen noch Pflegegrad eins.
taz: Was fordern Sie von der Politik?
Fritz: Jetzt ist erst mal diese Anhörung im Gesundheitsausschuss wirklich wichtig, um in Hamburg eine Diagnostik- und Versorgungsstruktur aufzubauen. Es geht ja nicht nur darum, Sachen zu erkämpfen, die nicht da sind, sondern etwas dagegen zu tun, dass Stigmatisierung als Waffe gegen die Erkrankten eingesetzt wird. Das hat mich am meisten schockiert, öffentlich von Ärzten als nicht zurechnungsfähig erklärt zu werden, nur weil man jetzt diese Krankheit hat und darüber redet.
Öffentliche Expert*innen-Anhörung im Gesundheitsausschuss zur ME/CFS und Long Covid: 20.11. um 17 Uhr. Die Anhörung kann im Livestream der Hamburgischen Bürgerschaft verfolgt werden.
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