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Deutschlands TürkeipolitikVorsichtige Annäherung am Bosporus

Scholz und Erdoğan leiten mit ihrem Treffen eine Wende in der deutsch-türkischen Politik ein:­ von Distanz zu engerer Kooperation.

Olaf Scholz und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu Beginn ihres Treffens vor dem Dolmabahçe-Palast in Istanbul Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung/dpa

Istanbul taz | Als der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am Samstagnachmittag gemeinsam mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Pressesaal des Dolmabahçe-Palastes betrat, sah er sehr zufrieden aus. Hier, am letzten Sitz der Sultane des Osmanischen Reiches direkt am Bosporus, hat sich Erdoğan ein Präsidentenbüro in Istanbul einrichten lassen, wo er den deutschen Kanzler zu einem „Arbeitsbesuch“ empfangen hat. Was dann Scholz wenig später vor der Presse verkündete, ist nicht weniger als eine Nahezu-180-Grad-Wende der deutschen Türkeipolitik. Wo in den letzten Jahren Distanz, Misstrauen und offene Auseinandersetzung geherrscht hatte, scheint nun aller Ärger vergessen. Statt um Pressefreiheit, Rechtsstaat und Menschenrechte geht es jetzt um gute Zusammenarbeit und eine Reintegration der Türkei in „den Westen“.

Schon in seinem Eingangsstatement stellte Erdoğan zufrieden beim Thema Waffenverkäufe fest, dass sich die Beziehungen beim Rüstungsexport normalisiert hätten. Bereits zwei Wochen vor dem Besuch von Scholz in Istanbul berichtete der Spiegel, dass der Bundessicherheitsrat Waffenexporte an die Türkei im dreistelligen Millionenbereich genehmigt habe. Die Bundesregierung dementierte diesen Bericht nicht.

Beziehung beim Rüstungsexport normalisiert

Auf Nachfragen sagte Scholz dazu: „Die Türkei ist Mitglied der Nato. Es ist ganz normal, dass wir an unseren Nato-Bündnispartner Waffen liefern.“ Tatsächlich geht es nicht nur um ein paar Ersatzteile für Kriegsschiffe oder U-Boote wie in den letzten Jahren, sondern auch um ein Juwel der europäischen Rüstungsindustrie: den Eurofighter. Das Kampfflugzeug wird von Großbritannien, Italien, Spanien und Deutschland gebaut und kann auch nur mit Zustimmung aller vier Länder exportiert werden. Frühere Anfragen der Türkei scheiterten schon im Vorfeld, weil Deutschland klargemacht hatte, dass es auf keinen Fall zustimmen werde. Das ist jetzt anders. Den Verkauf von insgesamt 40 Eurofightern an die Türkei verhandelt zwar Großbritannien, doch Scholz machte klar, dass Deutschland dem nicht mehr im Weg stehen würde. „Wir warten die Verhandlungen mit Interesse ab“, sagte er.

Statt Pressefreiheit und Menschen­rechte geht es um Zusammenarbeit

Auch sonst waren sowohl von Scholz wie von Erdoğan bislang ungewohnte Töne zu hören. „Unsere bilateralen Beziehungen sind sehr gut“, stellten beide fest, was auch durch die bekannten Meinungsverschiedenheiten über Israel und den Krieg im Nahen Osten offenbar nicht beeinträchtigt wurde. Obwohl Erdoğan mehrfach den israelischen „Völkermord“ im Gazastreifen beklagte, begnügte Scholz sich damit, festzuhalten, das Deutschland da bekanntermaßen eine andere Position habe und man sich trotzdem gemeinsam darauf konzentrieren wolle, für einen Waffenstillstand und längerfristig eine Zweistaatenlösung zu werben. Erdoğan wiederum wollte deutsche Waffenlieferungen an Israel nicht kommentieren und redete stattdessen lieber darüber, welche furchtbare Zerstörung die von den USA an Israel gelieferten modernen F-35 Kampfbomber im Gazastreifen und im Libanon anrichten würden.

Wie man aus Kreisen der Kanzlerdelegation hören konnte, hofft Scholz sehr darauf, dass Erdoğan bei der Vorbereitung echter Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine eine wichtige Rolle spielen könnte. Bei aller Beteuerung über die ungebrochene Unterstützung der Ukraine durch Deutschland hat Scholz doch in den letzten Wochen auch mehrfach anklingen lassen, dass es Zeit würde, sich auch um Verhandlungen ernsthaft zu bemühen. Das Thema dürfte auch bei seinem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden in Berlin unmittelbar vor seinem Abflug nach Istanbul eine Rolle gespielt haben. Es scheint so, dass Deutsche und Amerikaner sich einig sind, dass man Erdoğan da in Zukunft noch brauchen wird.

Der Schwenk in der deutschen Türkeipolitik ist enorm

Obwohl die Frage der Abwehr und Abweisung von Flüchtlingen einer der Hauptgründe gewesen sein dürfte, warum Scholz gerade jetzt unbedingt für ein paar Stunden nach Istanbul kommen wollte, hielten sich doch beide Seiten darüber sehr bedeckt. Scholz sagte, dass Deutschland und die EU insgesamt die Türkei bei der Unterbringung von bald 4 Millionen syrischen Flüchtlingen weiterhin finanziell unterstützen würden, von einem neuen oder auch nur erneuerten EU-Türkei Flüchtlingsdeal war aber nicht die Rede. Lediglich als Scholz gefragt wurde, ob er sich bei der Abschiebung syrischer Flüchtlinge die in Deutschland kriminell geworden sind, Hilfe von der Türkei erwartet, ließ er durchschimmern, dass Abschiebungen nach Syrien ohne die Nachbarländer kaum vorstellbar sind. Auch, wenn beide Seiten bei diesem Thema vage blieben kann sich das bald ändern, sie wollen nämlich wieder regelmäßige Regierungskonsultationen gemeinsam mit diversen Ministern aufnehmen. Die Flüchtlingspolitik wird sicher eine wichtige Rolle spielen.

Der Schwenk in der deutschen Türkeipolitik ist zwar enorm, ganz überraschend kommt er aber nicht. Scholz hatte sich vor seiner Istanbul-Reise in diesem Jahr schon zweimal mit Erdoğan am Rande internationaler Veranstaltungen, zuletzt bei der UNO in New York getroffen. Außerdem war ja schon Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April dieses Jahres zu seinem „Döner-Gipfel“ in der Türkei. Erdoğan ist so beeindruckt davon, dass er nun Steinmeier seinen Freund nennt. Kurz vor Scholz besuchte dann noch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil das Land.

Während Scholz sein Verhältnis zu Erdoğan verbesserte, traf sich Klingbeil mit der Oppositionspartei CHP. Die CHP ist nicht nur die sozialdemokratische „Schwesterpartei“ der SPD, sondern könnte auch nach den nächsten Wahlen den Präsidenten und/oder den Ministerpräsidenten stellen. Die beiden Parteien wollen zukünftig enger zusammenarbeiten. Zumindestens dort soll weiterhin über die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und insgesamt über die Stärkung einer „regelbasierten Weltordnung“ geredet werden. Die SPD- Spitze hofft jedenfalls, dass die CHP, sollte sie an die Macht kommen, wieder für eine unabhängige Justiz sorgen wird. Und die jetzigen politischen Gefangenen wie den früheren Vorsitzenden der kurdischen Partei Selahattin Demirtaş und den Menschenrechtler Osman Kavala auf freien Fuß setzen wird.

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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Einen Austausch zwischen D und der Türkei gibt es regelmäßig, auch wenn jetzt nach 2018 Pause war. Dass es vornehmlich um Waffenlieferungen geht, ist befremdlich, aber für Deutschland typisch. Wir sollten aber nicht naiv sein. Auf diese Weise bewirken wir keine Änderungen in der Türkei zum Guten. Höchstens stärken wir die autokratische Entwickelung noch weiter. Siehe Russlans, siehe China.

  • "Schon in seinem Eingangsstatement stellte Erdoğan zufrieden beim Thema Waffenverkäufe fest, dass sich die Beziehungen beim Rüstungsexport normalisiert hätten."



    Krisengebiet, Kriegsgebiet, offenbar Meinungs- und Definitionssache:



    www.tagesschau.de/...ordsyrien-100.html



    /



    Titel



    "Türkei und Nordsyrien



    Erdogans unbeachteter Krieg"



    Wertebasiert wird umfunktioniert.

  • Die Türkei benötigt die Jets unter anderem, um das "verbündete" Griechenland noch effektiver militärisch unter Druck setzen zu können als sie dies ohnehin schon tut. Für genau diesen Zweck liefert Deutschland übrigens bereits U-Boote. Erdogan ist der autoritäre Führer eines krass nationalistischen Regimes, der das türkische Publikum systematsich mit islamistisch-imperialen Rhetorik auputscht. Neben Griechenland gehört auch Israel, dessen Sicherheit sich Deutschland angeblich verpflichtet fühlt, zu den Lieblingsfeinden Erdogans. Wie derartige narrative Eskalationen in kriegerische Handlungen umschlagen können und daher sehr ernst genommen werden müssen, lässt sich wunderbar am Beispiel Russlands studieren. Die Parallelen zwischen Putin und Erdogan sind frappierend. Sollte Deutschland der Türkei die Jets zugestehen, wäre dies verantwortungslos und kurzsichtig. Anstatt die Großmachtbestrebungen der Türkei zu unterstützen, sollte sich Berlin mehr Gedanken darüber machen, wie sich diese eindämmen lassen, bevor sie noch das östliche Mittelmeer explodieren lassen.

  • Im Klartext, Erdogan diktiert seine Bedingungen und der Westen, hier Scholz, erfüllen sie.



    In Inneren kann Erdogan, die letzten Reste der säkularen Türkei demontieren, die innenpolitischen Gegner inhaftieren oder vertreiben, gegen Kurden, Armenier, Assyrer/Aramäer, Christen, Yeziden und Aleviten, auch mit Militär vorgehen.

    Er kann die Kurden im Irak und Syrien bombardieren, weitere Gebiete erobern, in Libyen seinen Einfluss ausdehnen, und natürlich die Indoktrination der hiesigen Türken vorantreiben. Alles ohne Probleme.

    Denn reguliert den Zustrom an Flüchtlingen aus Syrien und anderen Opfern westlicher Aggression, hält eine wichtige Mittlerposition mit Russland, und kontrolliert die Ölpipeline nach Israel. Seine Zustimmung zum NATO-Eintritt von Schweden durch die Auslieferung von Kurden belohnt.

    Alle Westmächte müssen sich beugen, Scholz sieht vielleicht etwas lächerlicher aus, als andere.



    Deutschland war und ist außenpolitisch hilflos und ein Niemand, die jetzige Laienspielschar macht das nur deutlicher.

  • Okay, nur zum Verständnis. Wir debattieren hier darüber, ob wir Taurus an die Ukraine liefern um sich gegen den Angriffskrieg aus Russland zu verteidigen, liefern jetzt aber den Eurofighter an einen Politiker der die Kurden (unsere damaligeb Verbündeten gegen den IS) genau mit diesen Flugzeugenin die Steinzeit bombardieren wird.

    Ganz zu schweigen davon, dass er die Säkularisierung zugunsten eines Gottesstaates immer weiter abschafft, antisemitische Narrative verbreitet, die rechtsradikalen "Grauen Wölfe" unterstützt, Journalisten verhaftet, Russland Sanktionen umgeht und und und...

    Wo sind hier die Protestmärsche dagegen? Wo ist Frau Wagenknecht und Alice Schwarzer die gegen den Mord an kurdischen Zivilisten auf die Straße gehen?



    Wo sind die besetzten Universitäten?

    • @Pawelko:

      Danke für diesen Kommentar. Ich muss noch dazu anmerken. Diese Regierung und dieser Kanzler sind moralisch komplett am Ende. Scheinbar fühlen sie sich aber nach wie vor unangreifbar. Ein CDU Kanzler wird unvermeidlich sein (leider) und Olaf Scholz als peinlicher Ausrutscher, zusammen mit Gerhard Schröder, in die Geschichte eingehen.