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Deutschlandbild in der UkraineKorrekt und ohne Überraschungen

Alles sei wahnsinnig gut strukturiert in Deutschland, berichtet eine Rückkehrerin in die Ukraine. Nur das mit den Arztbesuchen klappt nicht so recht.

Das mit der funktionierenden Gesundheitsversorgung probieren wir in Deutschland noch aus Foto: Patrick Pleul/dpa

I ch bin kurz nach Kriegsbeginn nach Deutschland geflohen, habe anderthalb Jahre in Berchtesgaden gelebt“, berichtet die in Odessa lebende Künstlerin Katerina Biletina. „Vieles hat mir bei euch gefallen: Die Straßen und Parks sind so schön angelegt, in den Wäldern gibt es Wege für Spaziergänger und Fahrradfahrer. Doch nach anderthalb Jahren wollte ich wieder nach Odessa zurück. Vieles fand ich einengend.“

So fühlte sie sich von der Religio­sität in Berchtesgaden in ihrer kreativen Arbeit eingeschränkt. „Außerdem wird bei euch alles strukturiert und differenziert. Das fängt ja schon in der Küche an. Da hat jedes Teil seine genaue Bestimmung.“ Und diese Differenzierung setze sich in der Schule fort. Da entschieden ja bereits in einem frühen Alter die Zeugnisse, ob man aufs Gymnasium gehen darf. So etwas gebe es in der Ukraine nicht, bemerkt sie. Warum auch? Die Jungs und Mädchen merkten doch oft sehr spät, was sie wirklich machen können und wollen.

Die medizinische Versorgung sei in Odessa besser als in Deutschland. „Hier in Odessa rufe ich, wenn ich ein gesundheitliches Problem habe, meine Bekannten an – und schon weiß ich, welcher Arzt am besten für meine Beschwerde ist. Und dann gehe ich am nächsten Tag nach einem kurzen Anruf hin, beziehe mich auf unseren Bekannten und schon werde ich behandelt.“

Und noch etwas liegt ihr auf dem Herzen: „Bei euch gibt es keine Überraschungen, keine guten und keine schlechten. Ihr wollt alles maximal unter Kontrolle halten. Bei euch darf man ja nicht mal im Wald oder in einem Park ein Lagerfeuer machen, Schaschlik grillen. Für alles braucht man eine Genehmigung.“ Sie sieht wirklich nicht so aus wie jemand, der in einem Wald eine amtlich genehmigte Grillstelle suchen würde.

Gute Umgangsformen

Aber es gibt auch Dinge, die ihr an den Deutschen durchaus gefallen. „Sie haben gute Umgangsformen, achten sehr darauf, im persönlichen Kontakt nicht die Grenzen des Gegenübers zu übertreten.“ Beeindruckend sei auch, wie man sich in Deutschland um Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten kümmere. In der Ukraine gebe es viele Bahnhöfe, in denen Rollstuhlfahrer wegen fehlender Aufzüge und Rolltreppen nicht von einem Gleis zum anderen gelangen könnten.

„Ich bin in Deutschland mal bei Rot über die Ampel“, berichtet eine andere Frau in Kyjiw, die auch über ein Jahr in Deutschland gelebt hat. „Mit dem Fahrrad. Musste 60 Euro bezahlen. Neben mir war eine Frau, die auch von der Polizei angehalten worden ist. Und wissen Sie, was sie gesagt hat zu dem Polizisten? ‚Sie haben recht. Ich bezahle die Strafe. Aber da war doch noch ein Radfahrer direkt neben mir. Wieso haben Sie den nicht angehalten?‘ Nein, so was würde bei uns in der Ukraine nicht passieren. In solchen Dingen sind wir Anarchisten. Wir haben ein Wir-Gefühl gegenüber dem Staat. Aber ihr in Deutschland habt ein Wir-Gefühl mit dem Staat.“

Die Leute in Deutschland seien „superkorrekt“. „Aber diese Superkorrektheit hat auch Nachteile: Wenn ich in Deutschland beim Arzt bin, dann geht das alles rucki, zucki. Der Arzt spricht nicht ein Wort zu viel. Klar, das ist effektiv. Aber ich war hier in Kyjiw kürzlich bei der Podologin. Die hat erst mal Essen und eine Tasse Kaffee aufgetischt. Und dann haben wir uns unterhalten, über sehr private Dinge. So was kann dir in Deutschland nicht passieren.“

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Bernhard Clasen
Journalist
Jahrgang 1957 Ukraine-Korrespondent von taz und nd. 1980-1986 Russisch-Studium an der Universität Heidelberg. Gute Ukrainisch-Kenntnisse. Schreibt seit 1993 für die taz.
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4 Kommentare

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  • „Hier in Odessa rufe ich, wenn ich ein gesundheitliches Problem habe, meine Bekannten an – und schon weiß ich, welcher Arzt am besten für meine Beschwerde ist. Und dann gehe ich am nächsten Tag nach einem kurzen Anruf hin, beziehe mich auf unseren Bekannten und schon werde ich behandelt.“

    Mit den entsprechenden Bekannten funktioniert das in Deutschland auch 😁

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Ja, herrlich, da schimmert ein bisschen Osteuropäische Lebensweise durch - das mit dem Fussbad habe ich bei meinen Patientinnen noch nicht probiert- aber ein Tässchen Kaffee gönn ich mir gerne, wenn mal Zeit ist, mit denselben...



      Medizinische Fusspflege / Podologie/ Medizinstudium und Chef de Cuisine - nu ja - mein Job hat alles....Der Doktor und das liebe Vieh - ist immer mein Filmtip zur Orientierung über meinen Beruf für Unwissende- auf der Suche nach nem guten Arzttrip....

  • Das „Wir-Gefühl“ der Deutschen „mit ihrem Staat“ wird nicht mehr all zu lange halten, schätze ich. Die „Anarchie“ ist schon deutlich zu riechen. Der Staat lebt bereits länger „von der Substanz“, von dem, was Generationen korrekter und vor allem fairer Sachbearbeiter an Vertrauen aufgebaut haben. Geschätzt wird dieses Erbe (wie viele andere) momentan nicht. Es wird eher ruiniert. Da nützt es dann auch nichts mehr, dass deutsche Ärzte die Effizienz eines Fließbandarbeiters entwickeln, um maximal von der jeweils letzten Gesundheitsreform profitieren können. Ich jedenfalls möchte gar nicht unbedingt verköstigt und unterhalten werden von meinen Ärzten. Mir genügt es, wenn ich erfolgreich behandelt werde. Für den Kaffeeklatsch braucht es meiner Ansicht nach weder ein sechsjähriges Studium, noch medizinische Berufserfahrungen. Essen gehen kann ich also auch mit Freunden. Sogar mit solchen, die nicht teuer studiert haben.

  • So unterschiedlich können Sichten und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sein. Sie hat erlebt, für sich gewertet, Einengendes und Überstrukturiertheit gespürt und geht nach Odessa zurück.



    Andere, die hier auch schon zu Wort kamen, fallen in den Beschwerdemodus, definieren sich als Minderheit, sofort mindestens diskriminiert und bleiben aber trotzdem. Erkenntnisbereichernd.