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Deutsche Politik nach Brand in MoriaWir wollen das nicht schaffen

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Deutschland nimmt 150 Minderjährige auf, 13.000 sind in Moria obdachlos. Dass sich Seehofer für diese „humanitäre Leistung“ feiert, macht fassungslos.

Geflüchtete aus dem abgebrannten Lager in Moria Foto: Alkis Konstantinidis/reuters

A ngela Merkel und Horst Seehofer waren im Flüchtlingsherbst 2015 Kontrahenten. Aber sie haben daraus die gleiche Schussfolgerung gezogen. Deutsche Grenzen sollen nie mehr offen für Flüchtlinge sein, wenn sich Europa nicht beteiligt. So lautet die neue Doktrin. Sie gilt – egal, wie viele im Mittelmeer ertrinken, egal, ob das Lager Moria niederbrennt, egal ob deutsche Großstädte anbieten, Flüchtlinge aufzunehmen.

Deutschland wird 150 Minderjährige aufnehmen, in Moria sind 13.000 obdachlos. Dass sich Horst Seehofer für diese „humanitäre Leistung“ feiert, macht fassungslos und wirft mal wieder die Frage auf, in welcher Welt der Innenminister lebt. Auch in der Union gibt es viele, die wissen, dass Deutschland ohne Risiko mehr tun kann, ja muss. Doch die neue Merkel-Seehofer-Doktrin heißt: Wir schaffen das nicht – und wollen es auch nicht.

Taktisch war Merkels Ansage, zusammen mit Frankreich und ein paar anderen Ländern 400 Minderjährige aus Moria aufzunehmen, sehr geschickt. Man zeigt, dass man etwa tut, signalisiert flüchtige Aufmerksamkeit, simuliert eine europäische Lösung und hält die Sache damit für erledigt. Moralisch ist das ein Offenbarungseid.

Seehofers Argument, dass eine weniger engherzige Politik eine gemeinsame europäische Asylpolitik verhindere – weil die anderen dann immer wüssten, dass die deutschen Grenzen ja offen seien – ist fadenscheinig. Die EU-Asylpolitik ist seit Jahren blockiert – und diese Blockade verhärtet sich nicht, wenn ein paar Tausend aus Moria nach Freiburg, Erfurt oder Berlin kämen. Und sie lockert sich nicht, wenn im Winter Tausende in Moria vor sich hin vegetieren.

Und nun? SPD-Chefin Saskia Esken fordert wegen Seehofers Moria-Politik einen Koalitionsausschuss. Das ist angemessen, hoffentlich bleibt Esken damit in der SPD nicht alleine. Denn realpolitisch kann nur die SPD noch zeitnah etwas erreichen. Ob das Engagement von Norbert Röttgen und anderen Christdemokraten für eine größere Lösung mehr als ein One-Hit-Wonder ist, wird man sehen.

Auf jeden Fall gilt es, weiter öffentlichen Druck auszuüben und – wie es Bundesländer, Städte und Kommunen tun – zu zeigen, dass man Flüchtlinge aufnehmen will. Denn die Republik ist, anders als Seehofer und Merkel, fähig zu Solidarität.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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12 Kommentare

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  • Bundesrat Länder Ministerpräsidenten irren, zu meinen, Bundesinnenminister Horst Seehofer fehlende Zuweisung Geflüchteter im Katastrophenfall auf Lesbos im abgebrannten Lager Moria schütze vor Strafe durch Europäischen Gerichtshof wg. Menschenrechtsverletzungen, wenn sie keine Geflüchteten in Not aus Lesbos aufnehmen, versorgen, wie es das Menschenrecht, Genfer Flüchtlingskonvention, im Fall Deutschlands, Frankreichs, Englands, USA, Türkei, Russland, Saudi Arabien, Katar, Iran, Israel als Interventionspartei im Syrienkrieg durch Haager Landkriegsordnung verlangt. Jetzt gilt es als Zivilgesellschaft, NGO auf regionaler Ebene im Bund mit willigen Landes-, Regionalregierungen eigenverantwortlich zu handeln, gleich was nationale Zentralregierungen unterlassen, verbieten, nicht zuletzt, damit eine EU der Regionen politisch lebt.

    Ein direktes Instrument ist, die Aktivierung der EU Massenzustromrichtlinie 2000 aus Erfahrung Jugoslawienkrieg 1992-1995 zur Verteilung Geflüchteter im Kriegs-, Katastrophenfall auf alle EU Länder nach bestimmtem Schlüssel, gemessen an Finanz-, Wirtschaftskraft, Arbeitslosengrad, Ressourcen an Personal, Material

    taz.de/Nach-dem-Br...ingscamp/!5711019/

  • Vor zwei Wochen oder so dachten viele Leute in Deutschland nur an die nächsten Corona-Maßnahmen, ihr geschrumpftes Einkommen und das Feierabendbier. Mit ein bisschen gesundem Menschenverstand hätten sie sich denken können, dass Moria bald auf der Agenda stehen würde. Dort lebten über zehntausend Personen unter schrecklichen Bedingungen, die einen Ausbruch von Corona und einen Ausbruch aus dem Lager unvermeidlich machten. Wieder tut die Politik, was die AfD-Wähler wollen, obwohl die Partei gerade so schön dabei war, an Bedeutung zu verlieren. Die Rechten, die sich selbst als "Mitte der Gesellschaft" sehen, werden aber nicht CDU/CSU, Grüne oder SPD wählen, egal, wie grausam und zynisch die Regierung agiert, sondern die AfD. Und es gibt viel mehr Rechte und "Protestwähler", als viele wahr haben wollen. Und dann haben wir eine AfD-Regierung und was dann? Vor fünf Jahren kam angeblich eine Million Menschen hierher, niemand hat nachgezählt. Einige leben hier unter Abschreckungsbedingungen, die nicht ganz so schlimm sind wie Moria, aber die sich kein Deutscher bieten lassen würde. Einige dürfen bleiben und arbeiten. Einige sind zurückgeschickt worden oder weitergereist. Die Welt der "Mitte der Gesellschaft" ist nicht zusammengebrochen. Daraus könnte man viele Lehren ziehen. Die wichtigste für die Regierung: Wenn ihr die Arbeit der Rechten tut, schneidet ihr euch ins eigene Fleisch und vergrault die paar Wähler, die noch an das "kleinste Übel" glauben. Ich wähle schon seit Jahren nicht mehr strategisch sondern die linkste Partei, die ich auf dem Stimmzettel finden kann.

  • Die Rechten haben in Europa bereits gewonnen. Sie versetzen Regierungen dermaßen in Schrecken, daß diese sich nicht mehr trauen, humanitäre Politik zu machen. Damit diktieren die 10-20 Prozent Rechtswähler in Deutschland bereits die deutsche Politik. Das ist undemokratisch.

    Und ein Armutszeugnis für die etablierten Parteien. Noch ein Grund, die allesamt nicht zu wählen. Linke, Grüne, irgendwer, gebt mir die Alternative, die ich wählen kann. Ich sehe sie nicht. Ich sehe nur Machtgeilheit und Angst, für etwas einzustehen, überall. Angst vor der Kritik und der Häme von Rechts. Eine AFD-Regierung könnte kaum noch schlimmer sein. Deren Arbeit wird von den Etablierten im Moment vorweggenommen. Die Rechten müssen sich ja bepissen vor lauter Glück.

    • 8G
      83492 (Profil gelöscht)
      @kditd:

      "Damit diktieren die 10-20 Prozent Rechtswähler in Deutschland bereits die deutsche Politik. Das ist undemokratisch."

      Die Zustimmung zu einer Aufnahme von Menschen aus Moria liegt aktuell, selbst nach dem die schlimmen Bilder noch präsent sind, nicht bei 80%, sondern bei ca 50%. Möchten Sie jetzt immer noch, dass basisdemokratisch über eine Aufnahme entschieden wird?

      "Immerhin die Hälfte der Deutschen (50 Prozent) findet, Deutschland sollte zusammen mit anderen willigen EU-Staaten Flüchtlinge aus dem niedergebrannten Flüchtlingslager Moria aufnehmen. ...Das geht aus der repräsentativen Umfrage hervor, die das Meinungsforschungsinstitut am Donnerstag unter 1002 Befragten durchgeführt hat. Ein Drittel der Befragten kann sich aber weniger mit dem Gedanken anfreunden, dass nur eine "Koalition der Willigen" Geflüchtete aufnimmt. 34 Prozent wären nur mit Asyl einverstanden, wenn es eine europaweite Verteilung gibt. Nur eine Minderheit (15 Prozent) ist generell gegen eine Aufnahme."

      www.n-tv.de/politi...ticle22029015.html

  • 9G
    96177 (Profil gelöscht)

    Seehofe : Prototyp des durch und durch eigennützigen wohlstandverwahrlosten Parteichristen, dessen Partei sich wie zum Hohn auch noch "sozial" nennt

    • @96177 (Profil gelöscht):

      stimme voll zu.

      Ich erinnere mich noch an den Satz, der ihm rausgerutscht war (10.07.2018):

      An meinem 69. Geburtstag wurden 69 Flüchtlinge abgeschoben.

      Rausgerutscht deshalb, weil jetzt alle weiß, wie er tickt.

  • Können ja wieder Bürgschaften übernehmen, die bei Bedarf nicht erfüllt werden. Sozial engagiert wirken und andere zahlen lassen.

    • @Thomas Fluhr:

      Sie ignorieren all die Leute, die sich mit viel persönlichem Engagement für die Hilfe an andere engagieren.

      Sie meinen, Zynismus sei ein guter Ersatz für Solidarität.

      Kurzum -- Sie trollen.

  • Seehofer personifiziert das gesamte Elend des verlogenen Herumdokterns an Symptomen. Probleme werden aber solange nicht gelöst, wie man sich scheut, ehrlich über die Ursachen nachzudenken. Wir diskutieren viel zu selten die Fluchtgründe, für die Europa zu wesentlichen Teilen mitverantwortlich ist.



    Stattdessen müssten europäische Politiker und Konzernchefs sich fragen, wessen Handeln und Unterlassen diese Flüchtlinge zu Flüchtlingen macht. Europa muss den Heimatländern der Flüchtlinge helfen, indem es aufhört, die dortigen Gesellschaften mit unfairen Handelsverträgen und Zöllen zu knebeln, die Fischgründe zu okkupieren, den Bauern die Felder abzupressen und die örtlichen Autokraten zu füttern, damit (auch) westliche Unternehmen billig an Rohstoffe und rechtlose Arbeitskräfte herankommen.



    Das wäre nicht nur ethisch geboten, es wäre letztlich sogar billiger, als jahrzehntelang perspektivlose Flüchtlinge mehr schlecht als recht inmitten einer unwilligen europäischen Bevölkerung versorgen zu müssen, von den Kosten durch resultierende hiesige Dauerkonflikte ganz zu schweigen.



    Aber dazu müssten wir Europa neu erfinden.

  • Guten Tag,

    erst schämt man sich wieder als Deutscher. So viel Leid, so viel Dreck und das vor unserer Haustür (weiter weg ist es aber genauso schlimm). Wir ließen und lassen die Griechen alleine. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr lesen, wie wir Flüchtlinge wie Dreck behandeln. Ich will nicht mehr lesen und hören, wie wir über Flüchtlinge reden und wie wir einfach wegducken.



    Warum ist so viel leid egal? Wenn das Weiße Europäer wären, würden die Diskussionen, gerade in den C-PArteien, ganz anders verlaufen.

    Der Satz " Denn die Republik ist, anders als Seehofer und Merkel, fähig zu Solidarität." stimmt mich froh, denn letzten Endes glaube ich auch daran. Dass es in unserem Land mehr solidarische Menschen gibt, als das medial Bild es vermittelt.

    • @Thomas Köcher:

      naja weisse Europäer die Hilfe bräuchten können Sie in jeder Großstadt finden.

  • Ja, fassungslos. Oder nein: es macht mich wütend.

    Ich bin gespannt, wie gut jetzt die Zusammenarbeit der "neuen" SPD mit ihrem "neuen" Olaf Scholz läuft.

    Seine Äusserungen lassen nichts gutes ahnen. Möge ich mich täuschen.