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Deutsche Haltung zu NahostPaternalistischer Philosemitismus

Gastkommentar von Andrea Scrima

Kritik am Staat Israel wird schnell mit Antisemitismus gleichgesetzt. Statt vernünftiger Argumente findet man eine Kultur des Vermeidens.

Freidensbewegte am 24. November vor dem Bundeskanzleramt Foto: Stefan Boness

D eutschlands Juden und Jüdinnen haben wieder Angst um ihr Leben: eine zutiefst beschämende Tatsache, hat das Land doch alles darangesetzt, seine faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten und den Anti-Antisemitismus und die bedingungslose Unterstützung Israels zur Staatsräson zu machen.

Andrea Scrima

in New York geboren und seit 1984 in Berlin beheimatet, ist Schriftstellerin und derzeit Grazer Stadtschreiberin. Sie ist doppelte Staatsbürgerin.

Doch einigen Juden und Jüdinnen geht es nicht um das vielerorts beklagte Fehlen der Empathie angesichts der brutalen Attacken vom 7. Oktober. In einem offenen Brief beschrieben mehr als hundert in Deutschland lebende jüdische SchriftstellerInnen, JournalistInnenen, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen ein politisches Klima, in dem jede Form des Mitleids mit palästinensischen Zivilisten mit der Unterstützung von Hamas-Terroristen gleichgesetzt wird. Die Folgen sind Verstöße gegen die Bürgerrechte und das Canceln ­kultureller Veranstaltungen und die Gefährdung des demokratischen Rechts auf Dissens.

Dass Deutschland hier einen paternalistischen Philosemitismus praktiziert, indem es meint, andersdenkende Juden belehren zu müssen über ihr Jüdischsein und über die einzige korrekte Haltung in diesem Krieg, wirkt besonders absurd, wenn es jüdische MitbürgerInnen sind, die diese unbequeme Beobachtung aussprechen müssen. Kritik am Staat Israel wird schnell mit Antisemitismus gleichgesetzt; statt vernünftiger Argumente findet man eine Kultur des Vermeidens, ein synchronisiert wirkendes Schweigen.

Deutschlands bedingungslose Unterstützung Israels halte das Land davon ab, „das Töten von Zivilisten in Gaza zu verurteilen, während es sich erlaubt, die Bedrohung anders denkender Juden zu ignorieren, in Deutschland wie auch in Israel“, wie die deutsch-amerikanische Autorin Deborah Feldman schreibt. Viele der Menschen, die am 7. Oktober ermordet wurden, hatten sich einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts verpflichtet. Doch sie seien, so Feldman, zugunsten der radikalen Siedler in der West Bank nicht geschützt worden: „Für viele liberale Israelis ist das Versprechen des Staats, Sicherheit für alle Juden zu gewährleisten, entlarvt worden als selektiv und an Bedingungen geknüpft“.

Die Lage ist aufgeheizt, doch es müsste möglich sein, einige Tatsachen gleichzeitig denken und aussprechen zu dürfen: das Recht Israels, sich zu verteidigen; dass nach Angaben des der Hamas unterstehenden Gesundheitsministeriums in Gaza bereits über 14.000 Zivilisten getötet worden seien; der Horror der von Hamas verübten Gräueltaten; die Vertreibung von knapp zwei Millionen Menschen und die Zerstörung ihrer Häuser und Städte. Stattdessen wird in Gut und Böse, Schwarz und Weiß argumentiert.

Es müsste möglich sein, einige Tatsachen gleichzeitig denken und aussprechen zu dürfen

Das Verhältnis Deutschlands zu seiner Vergangenheit ist „kompliziert“, heißt es: es gibt auch ein Trauma des Täters, das in einem langen, schmerzhaften Prozess aufgearbeitet werden muss. Das Ergebnis ist beunruhigend: Die zutiefst ausländerfeindliche AfD feierte neulich einen Sieg bei einer Landratswahl in Südthüringen, womit erstmals seit 1949 eine rechtsextreme Partei an den Hebeln der Macht sitzt – eine Entwicklung, die in den deutschen Medien teilweise weniger Empörung ausgelöst hat als das kürzlich erfolgte Bekenntnis eines sich bisher als jüdisch ausgebenden Autors, dass er doch nicht jüdischer Herkunft sei.

Fetischisierung von Jüdischsein?

Über die letzte documenta-Ausstellung und die propalästinensische BDS-Kampagne, die von einem Bundestagsbeschluss 2019 als antisemitisch eingestuft wurde, weil sie die Existenz Israels in Frage stelle, wurde heftig debattiert, doch man sucht vergeblich nach einer öffentlichen Diskussion, die sich mit der konkreten Realität Israels oder mit der Zukunft seiner Bewohner auseinandersetzt.

Deutschland, so Feldman, fetischisiere das Jüdischsein; tatsächlich kann dem Land eine zwanghafte Beziehung zur eigenen Vergangenheit attestiert werden: Ein immer noch nicht verarbeitetes Ressentiment wird auf Randgruppen projiziert und die muslimischen MitbürgerInnen beispielsweise für den wachsenden Antisemitismus verantwortlich gemacht. Doch die Statistiken belegen, dass Judenhass kein reiner Import ist: Von den antisemitischen Vorfällen aus 2022 sind laut Bundespolizei 84 Prozent von deutschen Rechtsextremen verübt worden.

Unlängst schrieb der preisgekrönte israelische Journalist Haggai Matar, die einzige Möglichkeit, die Palästinenser daran zu hindern, sich gegen ihre Unterdrücker aufzubegehren, bestehe darin, die Unterdrückung und die Verweigerung ihrer Rechte zu beenden. „Es wird Gerechtigkeit, Sicherheit und eine lebenswürdige Zukunft für uns alle geben oder für keinen von uns“. Es wird zunehmend klar, gerade unter Israelis, dass es keine „Ausrottung“ von Terror geben kann, wenn die Ursachen dieses Terrors nicht beseitigt werden.

Kein Blankoscheck

„Wer sich für unschuldige Kinder in Flüchtlingslagern einsetzt, wer sich einbringt für universelle Menschenrechte und damit für die Lehren, die aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen werden mussten, der ist kein Antisemit. Jede andere Behauptung ist Gaslighting“, so Feldman. In ­Haaretz warnt die israelische Journalistin Amira Hass davor, einem verwundeten, verletzten Israel einen „Blankoscheck [zu] geben, zum hemmungslosen Töten, Zerstören und Pulverisieren“.

Vielleicht kann Deutschland im Laufe dieser Tragödie erkennen, dass seine Verantwortung aus dem Holocaust – die größte Lehre seiner entsetzlichen Geschichte – darin besteht, den Mechanismen der Dehumanisierung, der Diskriminierung und der Gewalt gegenüber allen marginalisierten Gruppen entgegenzuwirken, wo immer sie praktiziert werden.

Dass ein Vizekanzler mit einer jungen Schriftstellerin im Fernsehen diskutiert, bei Markus Lanz mit Deborah Feldman – das Äquivalent in den USA wäre in etwa Kamala Harris, die mit Ta-Nehisi Coates debattieren würde, eine angesichts der hermetischen Kreise der Macht nahezu unmögliche Vorstellung –, lässt hoffen.

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10 Kommentare

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  • Vielen Dank für diese klare und richtige Analyse!

  • Die Behauptung, 84 Prozent aller antisemitischen Straftaten in 2022 würden von Deutschen verübt, beruht auf einem Missverständnis. Tatsächlich sagt die Bundespolizei lediglich, 84 Prozent seien "rechts" motiviert, worunter man sich alles mögliche vorstellen kann

    • @Rainer Möller:

      Natürlich sind wahrscheinlich auch ein paar Nazis aus anderen EU Ländern an sowas beteiligt, aber der Anteil ist wahrscheinlich gering.

  • "... hat das Land doch alles darangesetzt, seine faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten..."



    Nein, hat es nie.

  • "politisches Klima, in dem jede Form des Mitleids mit palästinensischen Zivilisten mit der Unterstützung von Hamas-Terroristen gleichgesetzt wird."



    Und schon wieder! Das ist eine infame Unterstellung und schlichtweg falsch, und auf dieser falschen Behauptung (dieser Schwarz-Weiß-Sicht!) baut der ganze Artikel auf. Das Mitgefühl mit der leidenden palästinensischen Zivilbevölkerung wird - und zwar zurecht - dann kritisiert, wenn Ursache und Verantwortlichkeit verschwiegen oder allein Israel zugeschrieben werden, wenn israelische Opfer verschwiegen oder verhöhnt werden oder die Hamas so dargestellt wird, als würde sie Widerstand gegen ungerechte Politik leisten. Ich kenne keinen, noch so israelsolidarischen Menschen, der kein Mitleid mit palästinensischen Zivilisten hätte.

    • @dites-mois:

      Absolut.

  • "Kritik am Staat Israel wird schnell mit Antisemitismus gleichgesetzt. Statt vernünftiger Argumente findet man eine Kultur des Vermeidens."



    Das geht doch schon seit Jahrzehnten so. Jeder auch noch so leisteste Zweifel an der Okupationspolitik Israels (der Regierung) in den letzten 20 Jahren wurde niedergemacht mit dem zweifelhaften Argument "die Linken sind verkappte Antisemiten", wie auch heute.



    Selbst so simple Dinge, wie kein Import von illegal, nicht mal besetztem Land, sondern einer radikalen Minderheit der Siedler zugeschanztem Land, wurde als antisemitisch diffamiert.



    Die israelische Regierung ignoriert alle Appelle der USA, maßvoll zu agieren und nicht den gleichen Fehler zu begehen, wie sie selbst 9/11.



    Im Krieg stehen alle Israelis zusammen. Natürlich, dass würde ich auch für unser Land erwarten. Damit kann man aber auch spekulieren.



    Und damit bin ich im Kern meines Beitrags: es geht nur um Netanjahu. Er hat hat sein Land an eine rechtsradikale Minderheit verhökert. Allein um seine billige Haut zu retten - vor einer intakten Justiz - die er mit aller Macht und seiner rechtsradikalen Minister zerstören will.



    Jetzt ist es an der Zeit, einer befreundeten Regierung zu sagen: Eyh Bibi, jetzt ist es Zeit. Zeig einmal Courage und mach den Weg frei. Geh.

  • "Stattdessen wird in Gut und Böse, Schwarz und Weiß argumentiert."



    -> Auf der einen Seite hypen wir seit über 20 Jahren Serien und Filme wo es nicht nur schwarz und weiß gibt, sondern auch grau. Leider wird diese Erfahrung nicht ins wirklichen Leben übertragen. In unserer eigenen Erfahrungswelt kanns gar nicht genug schwarz und weiß sein....

  • "hat das Land doch alles darangesetzt, seine faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten "

    Leider ist das Problem nicht "das Land", sondern die Menschen darin. Und auch wenn Deutschland seine Vergangenheit aufgearbeitet hat, war es zu keinem Zeitpunkt völlig befreit von AntisemitInnen und Nazis. Und wird es leider auch nie sein. Genauso wie es immer Mörder und Räuber geben wird.

    Man sollte also zunächst mal den 100% Absolutheitsanspruch aufgeben, weil sinnlos. Auf die Anzahl der entsprechenden Vorfälle muss man aber natürlich achten und sollte zusehen, dass nicht auch noch institutionalisierter Fremdenhass dazu kommt. So, wie der nämlich gerade einen enormen Vorschub bekommt, dadurch, dass alle Parteien durch die Bank (außer den Linken) in Sachen Migration die Politik der AfD machen. Das schein-legimiert die Ideen der AfD und damit auch der Bevölkerung, die mit Fremdenhass geimpft ist.

    Und wenn man nun verstärkten Antisemitismus sieht, muss man mal sehen, wie es denn sonst in Deutschland bestellt ist um Fremdenhass allgemein. Ich finde ein brenndes Asylantenheim nämlich genauso schlimm wie eine brennende Synagoge. Beides darf nicht sein.

    • @Jalella:

      " Auf die Anzahl der entsprechenden Vorfälle muss man aber natürlich achten und sollte zusehen, dass nicht auch noch institutionalisierter Fremdenhass dazu kommt."



      Genau so ist es.



      Aber das ist Fakt.



      Frage: wie konnte es dazu kommen, das durchweg alle Parteien (ausser den LINKEN mit ihrer marginalen Meinung) sich auf diesen, von den braunen Asis vorgegebenen Diskurs einlassen konnten.