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Deutsche Erinnerung an KolonialismusMaji-Maji als Metapher

Deutschland tut sich schwer mit der Anerkennung kolonialer Vergangenheit. Postkolonialismus hat wenig Raum.

Europäischer Postkolonialismus: Keine Anzeichen eines Bruchs Foto: Alix Marie/plainpicture

D emnächst wird in Berlin eine Straße nach Maji-Maji benannt, dem großen Freiheitskampf im frühen 20. Jahrhundert gegen die kolonialdeutsche Besetzung Ostafrikas. Die Umbenennung im sogenannten Afrikanischen Viertel, auf dessen Straßenschildern lange ein Amalgam aus Nazi- und Kolonialideologie fortlebte, ist das Ergebnis jahrelanger Bemühungen.

Während dieser Zeit hat sich allerdings bei den meisten Deutschen kaum das Wissen vermehrt, welches Verbrechen hinter dem Stichwort Maji-Maji steht: Der Aufstand auf dem Gebiet des heutigen Tansanias wurde vom Kaiserreich mit genozidalen Methoden niedergeschlagen – Felder wurden abgebrannt, Ernten und Saatgut vernichtet. Etwa 200.000 zivile Opfer; viele starben eines erbärmlichen Hungertods.

Der Bundestag spricht lieber über den Holodomor; die Gewalt der anderen. Kürzlich kamen Nachfahren der tansanischen Opfer zu Besuch. John Mbano sucht nach dem Schädel eines von Deutschen gehenkten und posthum zerstückelten Familienangehörigen, einer Führungsgestalt des Aufstands. Seine Frau Cesilia Mollel, Geschichtslehrerin, berichtete, wie quälend es für sie sei, an ihrer Schule die Gräueltaten im Unterricht zu behandeln. Ob wir das auch täten, in unseren Schulen?

Ihre Erschütterung, das transgenerationelle Trauma der Opfer, hat kein adäquates Gegenüber. Einzelstimmen gewiss, Minderheiten – doch im Ganzen zeichnet sich der deutsche Echoraum beim Thema Kolonialismus durch die Abwesenheit von Erschütterbarkeit aus. Das Unrecht wurde feuilletonisiert: Als hätten sich die Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus in Kunstraub erschöpft, wird lieber von entwendeten Gegenständen gesprochen als von Genozid, von Rückgabe statt von Reparationen.

Keine leeren Vitrinen

privat
Charlotte Wiedemann

Sie befasst sich als Auslandsreporterin und Buchautorin mit Gesellschaften außerhalb Europas und deren Auseinandersetzungen mit dem Westen. Zuletzt erschien „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ (Propyläen 2022).

Museen haben eine weichgespülte Dekolonisierung als Geschäftsmodell entdeckt, eine softe zeitgeistige Progressivität, die übrigens perfekt in die Ära grünen Regierungshandelns passt: Machthierarchien nicht antasten, aber sie mit feinen Gesten verzieren. Die jüngere europäische Debatte über Restitution begann bekanntlich 2017 mit einer Rede von Emmanuel Macron an der Universität von Ouagadougou; er strebte danach, die junge Generation für sich einzunehmen und dem Einflussverlust Frankreichs entgegenzuwirken.

Als ich kürzlich im Musée du quai Branly in Paris war, suchte ich vergeblich nach Lücken: keine leeren Vitrinen, überhaupt keine Anzeichen einer rupture, eines Bruchs. Die Fülle außereuropäischer Kunstobjekte war erschlagend, schön – und beunruhigend. Gewiss, die Beschäftigung mit der Herkunft musealer Bestände hat Gutes und Sinnvolles bewirkt; und doch ist – außer in Nischen besonderer Sensibilität – etwas nicht gelungen, was man als epistemologischen Sprung bezeichnen könnte.

Also der Blick in den Spiegel: Wie steht es um die Provenienz und die Qualität europäischen Weltwissens? Wie kolonial geprägt ist der Kanon unseres Wissens, wie defizitär unsere Erkenntnis? Nein, keine Erschütterung, erst recht nicht in diesen Zeiten. Am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (dessen Beirat ich angehöre) erschien jüngst der Sammelband „Thinking the Re-Thinking of the World“. Er präsentiert Ansätze aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten zur Dekolonisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Die globalen Strukturen akademischer Forschung seien weiterhin von westlichen Interessen und eurozentrischen Konzeptionen geprägt, so der Befund des Instituts. Hierarchien markierten die Wahrnehmung dessen, was überhaupt als soziologische oder philosophische Produktion anerkannt wird. Diese ernüchternde Bilanz steht in erstaunlichem Kontrast zur wachsenden Popularität eines Feindbilds namens „die Postkolonialen“.

Über Jahrzehnte ignoriert

Angeblich dominieren sie Universitäten und Kulturbetrieb, haben sich in Medien, Stiftungen, Verlagen breitgemacht, schieben einander Gelder und Jobs zu. Die Klage über den geschickt verborgenen und zugleich gewaltigen Einfluss der Postkolonialen hat verschwörungstheoretische Züge – wie überhaupt bei diesem Thema schlichtweg alles behauptet werden kann, ähnlich wie in den USA über die Critical-Race-Theorien. Ein Kampfbegriff.

Wie vieles, was Dekolonisierung betrifft, wurden die tatsächlichen Autoren und Autorinnen Postkolonialer Theorien in Deutschland, wenn überhaupt, nur mit arger Verspätung wahrgenommen. Edward Saids „Orientalismus“ von 1978 erschien auf Deutsch erst nach mehr als drei Jahrzehnten; Dipesh Chakrabartys „Provincializing Europe“ nach einem Jahrzehnt. Aber im Diskurs der Feindseligkeit geht es gar nicht um diese bestimmte akademische Strömung, die sich längst verästelt hat.

Man kann sie natürlich kritisieren, doch wissen die aggressiven Antipostkolonialisten oft gar nicht, wovon sie reden – und das ist ihnen wurscht. So wie sich das Kaiserreich als späte Kolonialmacht durch eine überschießende Gewalttätigkeit hervortat, hat die späte Anerkennung des Kolonialgewesenseins in Deutschland eine eigene zähe Verbissenheit.

Und während sämtliche ehemaligen Kolonialmächte dazu neigen, frühere Verbrechen kleinzureden, jedes Land auf seine Weise, verspritzt das postkoloniale Feindbild in Deutschland ein ganz spezifisches Gift: Die so Markierten werden der Relativierung des Holocausts bezichtigt. Sie sind böse, ihre Gegner sind gut. Dan Diner ging so weit zu behaupten, die postkolonialen Theorien seien aus einer Affinität zum Nationalsozialismus im kolonialen Indien entstanden.

Das Jüdische Museum München zeigt gerade eine Installation zur europäischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts: 125 Millionen Tote – die Opfer des sich so zivilisiert dünkenden Kontinents; eine unvorstellbare Zahl, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Maji-Maji ist dabei nicht erfasst. Vielleicht steht Maji-Maji überhaupt für das, was wir nicht erfassen.

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4 Kommentare

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  • @FRAUKE Z Kommt denn die sogenannte Kongo-Konferenz auch nicht im Geschichtsunterricht vor an den Schulen? Auch nicht die Geschichte der "Geschenkten Kolonien"? Auch nicht die Geschichte des heutigen Namibias? Das wär ja schon echt sträflich. Diese Themen gehören ja doch auch zur deutschen Geschichte, wenn man schon die Geschichte anderer Weltteile sowieso auslässt, seltsamerweise.

    Mich stört das schon immer, wenn Europa den Humanismus in die Welt hinaustragen will und seine eigene gewalttätige Geschichte, nicht nur in Europa selbst, sondern auch in Afrika, Asien und den Amerikas zu vergessen scheint.

    Maji Maji sagte mir schon was, auch die deutsche Kolonialzeit in Ostafrika und deren Gräueltaten. Gut, dass in Berlin jetzt eine Strasse den Namen Maji-Maji tragen wird. Einige Passanten werden sich ja dann wohl hoffentlich mal fragen, was es damit auf sich hat.

    Tansania: Ganz interessant: die Bücher von Abdulrazak Gurnah, Träger des Literarturnobelpreises 2021

  • Dass der Maji-Maji-Aufstand in deutschen Schulen nicht vorkommt, hat *auch* damit zu tun, dass die deutsche Kolonien und der Hochkolonialismus überhaupt allenfalls am Rande erwähnt werden.

    Das finde ich auch bedauerlich. Anderseits habe ich auch Verständnis dafür, dass gerade aus den mit relevanten Ereignissen und Entwicklungen vollen letzten beiden Jahrhunderte eine Auswahl getroffen werden muss.

    In meiner Wahrnehmung schaffen es zwischen 1815 und 1933 nur vier Themen zu einer etwas stärkeren Präsenz in der Schule: Vormärz/Paulskirche, Deutsche Vereinigung, soziale Folgen der Industrialisierung und Versailler Vertrag.



    Selbst der Erste Weltkrieg führt ein Schattendasein.

    Nun ist diese Auswahl sicher nicht falsch. Die offensichtliche Alternative ist, sie zu kürzen bzw. zielführender zu behandeln und mehr Themen in derselben Zeit unterzubringen. Kandidaten dafür gibt es zuhauf.

    (Übrigens: Ich konnte das Stichwort Maji-Maji aus der Überschrift spontan zumindest grob einordnen. "Holodomor" musste ich nachschlagen.)

    • @Frauke Z:

      (Übrigens: Ich konnte das Stichwort Maji-Maji aus der Überschrift spontan zumindest grob einordnen. "Holodomor" musste ich nachschlagen.) Interessant: Mir ging es umgekehrt, nur konnte ich Holomodor genau einordnen. Wo hatten Sie Kontakt zu tansanischer Geschichte?

  • Die Anerkennung des Kolonialgewesenseins hat in Deutschland schlicht das Problem, dass es dieses "Wir Kaiserreich"-Gefühl nicht gibt.

    Die heutige nationale Identität beginnt eigentlich erst nach dem 1. Weltkrieg.

    Die heute 20jährigen haben teilweise Ur-Ur-Großeltern, die nicht alt genug sind, um an den Kolonialverbrechen des Kaiserreichs beteiligt sein zu können.

    Wollen wir wirklich mehr historisch begründete nationale Identität?