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Deutsche EU-RatspräsidentschaftEinmal rasch den Kontinent sanieren

Eric Bonse
Essay von Eric Bonse

Die Bundesregierung hegt ambitionierte Pläne für die kommenden sechs Monate. Kanzlerin Merkel geht es auch um ihr europapolitisches Erbe.

Illustration: Katja Gendikova

W ie peinlich ist das denn? Deutschland übernimmt am 1. Juli für sechs Monate den EU-Vorsitz – und wählt dafür einen Spruch, der glatt von Donald Trump stammen könnte! „Make America great again“, hatte Trump vor vier Jahren gefordert. „Europa wieder stark machen“, verspricht Außenminister Heiko Maas heute. Das ist nicht stark, sondern ziemlich daneben. Denn es erweckt den Eindruck, als sei Europa stark gewesen – was man in den letzten Jahren nun wirklich nicht behaupten konnte.

Und es erinnert an Trump und seine chauvinistische „America first“-Politik. Klar, die Bundesregierung meint das nicht so. Sie hat ihrem Motto ein dickes „Gemeinsam“ voran­gestellt. Und sie illustriert es mit dem Möbiusband, das ein „Symbol für Einigkeit und Verbundenheit“ sein soll. Doch das Möbiusband steht auch für Endlosschleifen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Und die Symbolik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Leitspruch für die deutsche Ratspräsidentschaft in die Irre führt.

Denn auch mit Einigkeit und Gemeinsamkeit ist es nicht weit her in der EU. Nicht einmal in Deutschland. Ausgerechnet das größte EU-Land hat maßgeblich zu Spaltung und Schwächung beigetragen. Von der Eurokrise über den Brexit bis hin zu Corona zieht sich eine lange Linie deutscher Alleingänge und Fehlentscheidungen, die die EU immer tiefer in die Krise geritten haben.

Als die Eurokrise begann, hat sich Kanzlerin Angela Merkel mit Händen und Füßen gegen Hilfen für Griechenland und andere „Schuldensünder“ gewehrt. Erst als der Euro auf dem Spiel stand, willigte sie in Finanzhilfen ein – unter vernichtenden Auflagen. Griechenland hat sich davon bis heute nicht erholt. Als der Brexit kam, sträubte sich Merkel gegen einen Politikwechsel. Die Europäische Union müsse runderneuert werden, forderte Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Die Kanzlerin lehnte ab.

Viele Alleingänge der Kanzlerin

Erst als die Briten tatsächlich ausgetreten sind, hat in Berlin ein Umdenken eingesetzt. Als die Coronakrise begann, hat die Bundesregierung die deutschen Grenzen dichtgemacht und den Export von medizinischen Hilfsgütern beschränkt. Erst als sich das taumelnde Italien hilfesuchend an China wandte und ein Aufschrei der Empörung durch Europa ging, besann sich Berlin eines Besseren.

All dies hat Spuren hinterlassen – nicht nur in Italien oder in Frankreich. Nach einer Umfrage des European Council on Foreign Relations haben viele Europäer in der Coronakrise den Eindruck gewonnen, dass die EU „irrelevant“ geworden sei. Nicht in Brüssel, sondern in Berlin wurden die großen Entscheidungen getroffen. Das „deutsche Europa“, das der Soziologe Ulrich Beck schon 2012 beschrieb, hat auch die Coronakrise geprägt – bis hin zur Frage, wer wann wohin in Urlaub fahren darf.

Die Deutschen haben gewonnen. Sie konnten als Erste nach Mallorca – noch vor den Spaniern. Und sie konnten die größten Hilfsprogramme auflegen. Mit atemberaubenden Milliardensummen sticht Berlin alle anderen aus, sogar die EU-Kommission ist besorgt. Und nun will ausgerechnet Deutschland die EU wieder starkmachen? Ausgerechnet das Land, das immer wieder auf dem Holzweg war und allzu oft auf der Bremse stand, will Europa aus seiner bisher größten Krise führen? Das ist eine gewagte Wette.

Es ist auch eine vielversprechende Wette. Denn sie verheißt ja nicht weniger, als dass die Kanzlerin aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und nun eine neue, solidarische Europapolitik wagen will. Dafür gibt es tatsächlich erste Anzeichen. So hat Merkel in der Finanzpolitik eine 180-Grad-Wende vollzogen. Plötzlich soll es doch EU-Schulden und Finanztransfers geben, um die Coronakrise zu lösen. Trotzdem wird sich die deutsche Wette auf Europa kaum einlösen lassen.

Die Deutschen haben gewonnen

Denn dafür sind die Aufgaben, die vor dem EU-Vorsitz liegen, viel zu groß. Und die Instrumente, die auf dem Tisch liegen, sind zu schwach. Allein die Aufgaben für die nächsten sechs Monate sind gewaltig. Es geht darum, die Coro­na­kri­se in den Griff zu kriegen, die Wirtschaft zu stabilisieren, sich mit China und den USA zu arrangieren und den Brexit erfolgreich abzuschließen. Das ist ein Programm für Jahre, nicht für Monate.

Zen­tral steht an, den Gesundheitsnationalismus der letzten Monate zu überwinden, den europäischen Binnenmarkt zu retten, Europa von den USA und China unabhängig zu machen und Großbritannien von Dummheiten abzuhalten. Und dann hätten wir noch den Klimawandel, den „Green Deal“ und die Flüchtlingspolitik. Berlin soll helfen, die Wirtschaft klimaneutral zu machen, eine gerechten und sozial verträglichen Übergang zu organisieren und eine faire Lastenteilung bei den Migranten zu organisieren.

Geht’s noch? Das ist ein Mammutprogramm, das nicht einmal das größte EU-Land stemmen kann. Europa und die Welt stehen vor einer Zäsur, die alles infrage stellt – und die EU zerreißen könnte. Im Frühjahr, auf dem Höhepunkt der Coronakrise wäre es beinahe schon passiert. Ist sich die Bundesregierung dieser Zäsur bewusst? Ist sie auf die historischen Umbrüche vorbereitet, die sich mit der Coronakrise massiv beschleunigt haben?

Dämmert den Regierenden in Berlin, dass sie die EU nur dann retten können, wenn sie sie radikal infrage stellen? In Brüssel hoffen das viele. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe mit dem Umbau begonnen, nun ziehe Merkel nach. Die Kanzlerin habe erkannt, dass sie nach Jahren des Bremsens und Neinsagens eine andere Politik wagen müsse, heißt es in Kommission und Rat.

Doch für die Außenpolitik gilt das sicher nicht. Da setzen Merkel und Maas weiter auf Kontinuität. Nicht einmal auf den geplanten Abzug von US-Truppen hat sie eine Antwort gefunden. Und auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik liegt noch einiges im Argen. Was derzeit in Brüssel auf dem Tisch liegt, darf man zwar getrost historisch nennen.

Nur Deutschland kann die EU retten

Ein 750 Milliarden Euro schwerer Wiederaufbauplan, aus Schulden finanziert und für Transferleistungen ausgelegt, ist mehr als alles, was die Europäische Union bisher zu denken wagte. Doch selbst wenn es Berlin gelingen sollte, diesen Plan durchzubringen – Zweifel sind erlaubt –, wäre es nicht genug. Im günstigsten Fall könnte er einen Wachstumsschub um 2 bis 4 Prozent bringen – doch in Frankreich bricht die Wirtschaft gerade um 11 bis 13 Prozent ein, je nach Schätzung.

Auch für den Kampf gegen den Klimawandel, den sich Berlin eher halbherzig auf seine Fahnen schreibt, reicht dieser Plan nicht aus. Es fehlt immer noch ein ehrgeiziges Klimaziel für 2030, es fehlen Mittel für die „Green Transition“ – den klima- und sozialverträglichen Umbau der Wirtschaft – im künftigen EU-Budget. Dass Berlin dieses Budget für 2021 bis 2027 eng begrenzen will und sogar noch einen Beitragsrabatt fordert, macht die Sache nicht besser.

Es deutet eher darauf hin, dass die Bundesregierung den Wiederaufbau als „Notopfer“ betrachtet – als Ausnahme, nach der man schnell wieder zum „Business as usual“ zurückkehren möchte. Die deutsche Wette auf Europa ist deshalb mit Vorsicht zu genießen. Sie verspricht große Dinge, die kaum zu leisten sind. Und sie hantiert mit Instrumenten, die den Herausforderungen nicht gewachsen sind. So wird Europa nicht „wieder stark“ – bestenfalls wird die aktuelle Schwächephase überwunden.

Aber will Deutschland wirklich ein starkes Europa? Möchte Merkel tatsächlich als „große Europäerin“ in die Geschichtsbücher eingehen, so wie Helmut Kohl? Darüber wird viel spekuliert, einige schreiben schon jetzt Lobeshymnen über Merkels europapolitisches Vermächtnis. Dafür jedoch ist es definitiv zu früh. Entscheidend ist, was hinten raus­kommt, pflegte Kohl zu sagen. Entscheidend für Merkel wird das sein, was am Ende der kommenden sechs Monate übrig bleibt.

Hochgesteckte Ziele

Wenn die EU im Dezember noch steht und Großbritannien sich mit einem Vertrag vom Binnenmarkt verabschiedet, wäre schon viel gewonnen. Wenn die Bundesregierung die kommenden sechs Monate nutzen würde, um ihre Interessen in der EU neu zu definieren und eine neue, solidarischere Europapolitik zu konzipieren, wäre dies noch besser. Denn dann könnte man hoffen, dass Deutschland sich dauerhaft für eine stärkere EU einsetzt – und nicht nur für sechs Monate.

Sollte es zudem noch gelingen, den „Green Deal“ auf den Weg zu bringen und eine fairere Asyl- und Flüchtlingspolitik zu konzipieren, so wäre dies ein großer Erfolg. Dann – und nur dann – könnte Merkel zu recht behaupten, dass sie ihr europapolitisches Erbe geordnet habe. Denn auch die Migrationskrise 2015 und der Flüchtlingsdeal mit der Türkei lasten auf ihrer Bilanz. Und was, wenn das alles nicht gelingt – oder nur ein geringer Teil davon?

Was passiert, wenn die deutsche Wette für Europa platzt? Das weiß keiner. Wenn überhaupt jemand die EU retten kann, dann nur Deutschland, pflegt man in Brüssel auf skeptische Fragen zu antworten. Es klingt wie das Pfeifen im dunklen Wald. Sicher ist nur eines: Europa wird am Ende dieses Jahres nicht mehr so sein, wie es früher einmal war. Schon allein der Abschied Großbritanniens wird dafür sorgen, dass die EU schwächer wird als bisher – und nicht stärker. Sorry, Herr Maas, aber Ihr Spruch ist einfach daneben!

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Eric Bonse
EU-Korrespondent
Europäer aus dem Rheinland, EU-Experte wider Willen (es ist kompliziert...). Hat in Hamburg Politikwissenschaft studiert, ging danach als freier Journalist nach Paris und Brüssel. Eric Bonse betreibt den Blog „Lost in EUrope“ (lostineu.eu). Die besten Beiträge erscheinen auch auf seinem taz-Blog
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