Deutsche Besatzung in Frankreich: Engagiert Geschichte dokumentieren
Ahlrich Meyer hat einen Essayband mit Texten unter anderem über die deutsche Besatzungspolitik in Frankreich vorgelegt. Der taugt zum Standardwerk.
Der Politikwissenschaftler und Historiker Meyer hat sich schon mit zwei anderen Werken als anerkannter Kenner der „deutschen Besatzung in Frankreich 1940-1944“ (2000), deren Verarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der „Endlösung der Judenfrage in Frankreich“ (2005) profiliert.
Meyers neue, äußerst verdienstvolle Essaysammlung „Der Bann der Unglaubwürdigkeit“, die gerade in der Edition Tiamat erschienen ist, enthält nun Essays zu Stationen und Ereignissen der deutschen Besatzungspolitik zwischen 1940 und dem Kriegsende in Frankreich. Zentral in der Sammlung ist jedoch ein Text über Hannah Arendt.
Für Arendt war nicht das Jahr 1933 das entscheidende historische Datum, sondern jener Tag im Jahr 1943, an dem sie erfuhr, was die Geschichte vom Vorher und vom unvorstellbaren Nachher trennt: Auschwitz bildet nicht eine, sondern die Zäsur.
Ahlrich Meyer: „Der Bann der Unglaubwürdigkeit. Essays und historische Studien zum Nationalsozialismus“. Edition Tiamat, Berlin 2023, 280 Seiten, 30 Euro
Die dortigen Vernichtungsfabriken überstiegen für sie bei weitem alles, was man vom Antisemitismus erwarten konnte, und veränderten das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit in einem undenkbar radikalen Sinn, der sogar im Prinzip glaubhaften Berichten von sehr seriösen Überlebenden der Hölle das „Odium der Unglaubwürdigkeit“ verlieh.
Einordnung zu Hannah Arendt
Der unerträgliche Gedanke, dass „schlechthin alles, was denkbar ist, auch möglich ist“ (die Formulierung stammt von David Rousset und wird von Arendt übernommen), wurde unabwendbar. Das NS-Menschheitsverbrechen wurde zur politisch-moralischen Herausforderung für das menschliche Dasein und Denken überhaupt.
Parallel zu den NS-Verbrechen beschäftigte sich Arendt mit der stalinistischen Terrorherrschaft in der Sowjetunion. Sie analysierte beide Herrschaftsformen als Ausdruck totalitärer Herrschaft, ohne die beiden einander gleichzusetzen, betrachtete sie aber beide als Bruch mit der Tradition politisch-moralischen Denkens.
Ahlrich Meyers Text über Hannah Arendt liest man mit großem Gewinn. Arendts Text „Eichmann in Jerusalem“ (1963), den sie in mehreren Varianten bzw. Schritten zum Buch erweiterte, traf bekanntlich von Anfang an auf heftige Kritik. In deren Zentrum stand ihre völlig überzogene These, von der sie nicht mehr abrückte, wonach die Einsetzung und Praxis von Judenräten in den Gemeinden und Ghettos eine Bedingung für die Durchführung von judenfeindlichen Maßnahmen war. Meyer zeigt, diese Behauptung ist heute mit dem Forschungsstand unvereinbar.
Theresienstadt als „einmalige Wahnwelt“
In einem anderen Essay behandelt Ahlrich Meyer den 1910 in Prag geborenen, mittlerweile weitherum vergessenen Autor und Soziologen H.G. Adler und dessen Buch über das von den Nazis als Muster- und Vorzeigelager konzipierte Lager Theresienstadt. Vier Jahre überlebte Adler dort und übersiedelte 1947 nach London, wo ihn der geflohene Elias Canetti ebenso vergeblich unterstützte bei der Suche nach einem Verlag für das Buch wie später Hermann Broch von den USA aus, was erst 1955 durch Vermittlung von Theodor W. Adorno gelang. Es erschien im Tübinger Verlag Mohr Siebeck GmbH.
1956 lud Adorno H.G. Adler zwar zu einem Vortrag zu den Loeb Lectures ein, aber zu einer kontinuierlichen Kooperation zwischen Adler und dem Frankfurter Institut für Sozialforschung kam es nicht. Theresienstadt beschrieb Adler als „einmalige Wahnwelt“, die beherrscht wurde von allseitiger Täuschung, Lug und Trug.
Ein weiterer Essay Meyers beschäftigt sich mit dem aus Russland stammenden französischen Historiker Léon Poliakov, der mit „Bréviaire de la haine“ („Vom Hass zum Genozid“, deutsch 2021) ein dokumentarisches Meisterwerk zum Mord am europäischen Judentum vorgelegt und damit viele Forschungsarbeiten angeregt hat. Poliakov war nach dem Weltkrieg für zwei Jahre Sachverständiger beim Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und brachte zusammen mit Joseph Wulf auch die erste Dokumentation der Verfolgung und Ermordung der Juden in deutscher Sprache heraus, die als Pionierleistung gilt.
Wechsel der Methoden
In einem anderen beeindruckenden Text zeigt Meyer, wie sich die deutsche Militärverwaltung in Frankreich von der anfänglichen Erschießung von Geiseln nach Attentaten verabschiedete und zur Deportation der Juden nach Osten überging.
Entscheidend für den Kurswechsel waren nicht humanitäre Gründe, sondern rein taktische Erwägungen: Man wollte die Ruhe der Bevölkerung nicht stören mit brutalen Repressionsmaßnahmen und vor allem den Einbau der französischen Wirtschaft in die deutsche Kriegsökonomie nicht gefährden, wie selbst Ernst Jünger in seinem Pariser Tagebuch nach einem Gespräch mit Otto von Stülpnagel, dem Chef der Militärverwaltung in Paris, berichtete.
Nach der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 schwenkte die Wehrmachtsführung auf die Parteilinie ein und trieb die „Entjudung Europas“ voran (Werner Best, April 1941). Der Übergang zur Deportation der Juden ist der Beginn der Beteiligung der Wehrmacht an der „Endlösung der Judenfrage“.
Ahlrich Meyers Essays geben unter anderem einen hervorragenden Einblick in viele Facetten der deutschen Besatzungspolitik in Frankreich und sind für jeden historisch-politisch Interessierten auch ohne Spezialkenntnisse lesbar. Die jetzt vorliegende Essaysammlung reiht sich ein neben die erwähnten, zu Standardwerken der deutschen Besatzungspolitik gewordenen Bücher des Wissenschaftlers Ahlrich Meyer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin