Deutsch-türkische Beziehungen: Merkel und Erdogan reden wieder
Nach monatelanger Pause telefoniert die Kanzlerin mit dem Präsidenten. Ein Versuch, die Beziehungen wieder zu normalisieren?
Donnerstagabend telefonierte sie das erste Mal seit etlichen Monaten wieder mit Erdogan. Nach Meldungen der türkischen staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu habe man vereinbart, den Beziehungen wieder einen „neuen Impuls auf hoher Ebene zu geben“.
Außerdem habe Merkel versprochen dafür zu sorgen, dass die EU-Gelder, die der Türkei im Rahmen des Flüchtlingsabkommens zugesagt worden sind, schneller zu den türkischen Projektpartnern und an die türkische Regierung fließen.
Darüber hinaus habe Erdogan die Kanzlerin über die Syriengespräche informiert, die er mit den russischen und iranischen Präsidenten Putin und Rohani geführt hat.
Back to normal
Keine Rolle in den Gesprächen spielten offenbar die Nazi-Vorwürfe Erdogans an Merkels Adresse. Gleichzeitig war aber auch nichts mehr davon zu hören, dass Merkel Erdogan an das Schicksal der deutschen politischen Gefangenen in der Türkei erinnert hätte. Oder, dass sie gar eine Aufhebung des Ausnahmezustandes oder die Freilassung tausender anderer türkischer Oppositioneller angemahnt hätte.
Nachdem sie nach eigenen Angaben noch vor wenigen Wochen dafür gesorgt haben will, dass EU-Gelder, die an Beitrittskandidaten während des Verhandlungsprozesses gezahlt werden, für die Türkei gekürzt wurden, weil Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stark gefährdet seien, ist nun wohl wieder „Back to normal“ angesagt.
Es gibt viele Gründe, warum beide Seiten die schrillen Töne aus dem Frühjahr und Sommer des Jahres wieder vergessen lassen möchten. Dazu gehören von deutscher Seite die rund vier Millionen türkisch-stämmigen Einwanderer, die aufgehetzt von Erdogan, zu einem größeren innenpolitischen Problem werden könnten.
Dazu gehören aber auch die Interessen der vielen deutschen Firmen in der Türkei und die Zusammenarbeit mit Erdogan in Syrien und anderen Krisenherden im Nahen Osten. Erdogan dagegen braucht dringend wieder bessere Kontakte zur EU und Deutschland, weil seine Wirtschaft kriselt und er sich nicht gleichzeitig mit den USA und der EU streiten kann, ohne in eine bedrohliche Isolation zu geraten.
Noch ist unklar, ob das Tauwetter, wenn schon nicht den türkischen Demokraten, so doch wenigstens den deutschen politischen Gefangenen nutzt. Bisher hieß es jedenfalls immer, solange Deniz Yücel, dessen U-Haft gerade 300 Tage erreicht hat, und die anderen neun Inhaftierten nicht freigelassen werden, könne es keine Rückkehr zur Normalität geben.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott