Der vergängliche Reiz der Städte: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Der Hype ist weitergezogen: Leipzig hat gerade das, was Berlin verliert. Doch die, die schon da sind, haben Angst vor jenen, die kommen.
Südlich von Berlin liegt eine Stadt, die sich vor ihrer Stärke fürchtet. Die Stadt heißt Leipzig. Und weil es um Angst geht, speziell um die Angst, etwas zu verlieren, sollte man, wenn man über Leipzig spricht, auch an die Schweiz denken.
Das kleine, schöne, aber manchmal unheimliche Land hat neulich ein verräterisches Wort hervorgebracht: „Dichtestress“. Mit Dichtestress bezeichnen dort Zuwanderungsgegner das Gefühl, ihr Land sei überfüllt; die Städte seien überfüllt, die Züge, die Autobahnen. Alles zu voll.
Es folgte eine Volksabstimmung, bei der sich eine knappe Mehrheit der Schweizer für eine drastische Begrenzung weiterer Zuwanderung aussprach. Man könnte sagen: Ein Land verschafft sich Platz – in einem kollektiven Akt von Stressabbau.
Es gibt tatsächlich ein Platzproblem in der Schweiz: Im Mittelland, zu dem die Städte Zürich, Bern, Genf und Lausanne gehören, leben rund 430 Menschen pro Quadratkilometer, fast doppelt so viele wie in Deutschland. Dort, in den urbanen Zentren, stimmte die Mehrheit jedoch nicht gegen die Zuwanderung.
Das taten vornehmlich die Schweizer, die viel Platz haben, die Schweizer aus ländlichen, dünn besiedelten Gebieten. Das zeigt: Gefühle waren wichtiger als Fakten. Für manchen ist es eben schon stressig, wenn ihm am Ende des Tals drei Menschen entgegenkommen. Vor allem, wenn er die Menschen nicht kennt. Oder sie anders aussehen und sprechen als er.
Dichtestress bezeichnet also eher die Unfähigkeit und den Unwillen mancher Menschen, etwas zu teilen. Es geht auch um das seltsame Gefühl von Alteingesessenheit. Seltsam deshalb, weil es schwer zu sagen ist, ab wann jemand irgendwo alteingesessen ist.
Es lohnt sich, für einen Augenblick die Perspektive derjenigen einzunehmen, die sich bedroht fühlen. Denken wir beispielsweise an einen Urlaub am Meer. An der Mittelmeerküste gibt es Strände, die nur so lange öffnen, bis sie von einer gewissen Anzahl von Badegästen bevölkert sind. So hat jeder Platz, sein Handtuch auszubreiten, Strandmuscheln aufzubauen, über große Distanz Wasserball zu spielen.
Hier entsteht das Gefühl von Alteingesessenheit bei denen, die schon um neun Uhr am Strand sind. Sie fühlen sich gegenüber jenen überlegen, die erst mittags kommen. Das Früher-da-gewesen-Sein – daraus entsteht Heimat und Tradition. Und daraus leitet der Einheimische seine Rechte ab.
Von wegen 20.15 Uhr: Das Fernsehen, so wie wir es kannten, ist tot. Wie zwei Unterhaltungsprofis versuchen, es wiederauferstehen zu lassen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 26./27. April 2014. Außerdem: Warum Leipzig das neue Berlin ist. Wie zwei Schulen in der Sexualmedizin um den Umgang mit Transsexuellen kämpfen. Und: Preisgekrönte Fotos von ägyptischen Bodybuildern und ihren Müttern. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
In Deutschland ist das Wort „Dichtestress“ nicht im Umlauf, aber es kursieren Begriffe, hinter denen ähnliche Ängste stehen. Der deutsche Dichtestress findet sich am rechten Rand der Gesellschaft, dort zugespitzt zur Kampfparole „Das Boot ist voll“. Aber es gibt ihn auch, sozial verträglich übersetzt, in der Mitte – und bei Linken.
Berlin verglüht
Er äußert sich indirekt, in Form von Gentrifizierungskritik – aber ebenso feindselig. Der linke Dichtestress macht sich in den Städten breit, in Hamburg, Berlin und Leipzig. Er lebt von einer Stadtromantik, die eigentlich eine Dorfromantik ist, er steht irgendwo zwischen Landlust und selbstverwaltetem Hausprojekt. Er gibt vor, das Gute zu bewahren: die niedrigen Mieten, die Freiräume, die unsanierten Altbauwohnungen. In Wahrheit geht es auch hier nur um den Unwillen zu teilen.
In Berlin gab es unlängst eine Debatte über zugezogene Schwaben. Sie wurde auf der einen Seite ironisch geführt, weil die tatsächliche Wichtigkeit von regionaler Herkunft abnimmt. Auf der anderen Seite waren die Diskussionen ernsthaft, teilweise gar verbissen und aggressiv. Geführt mit der Arroganz derjenigen, die schon länger da sind. Obwohl doch jeder irgendwann in die Stadt zugewandert ist. Wenn nicht er selbst, dann seine Vorfahren. Eine Stadt entsteht nur durch Einwanderung. Man kann sogar sagen: Städte sind Einwanderung.
Die Aggression hätte auch Spanier oder Türken treffen können. Dann allerdings hätten jene Diskutanten, die sich als links bezeichnen, wohl Schwierigkeiten gehabt, in die Pöbelei einzustimmen. Der linke Dichtestress kaschiert die Fremdenfeindlichkeit, die in der Diskussion steckt. Er findet über Umwege zum Ziel.
Die Schwaben-Debatte war eigentlich Ausdruck einer Nostalgie, einer Sehnsucht nach einer vergehenden Zeit. Man kann das auch ohne Gefühle feststellen, ohne Aggressionen: Die Zeit Berlins ist tatsächlich vorbei. Wenn man Berlin als Stadt urbaner Freiräume sieht, als Stadt niedriger Mieten. Wenn man Berlin als leuchtenden, anarchischen Kometen betrachtet, der von der Wendezeit in die Umlaufbahn gefeuert wurde. Dieser Komet ist verglüht. Aber: Das ist der Lauf der Dinge. Aufstieg und Fall. Leben und Tod.
Leipzig leuchtet
Kurz vor dem Verglühen überdreht Berlin: Das Hipstertum ist das letzte nervöse Zucken vor dem Tod. Ein anderer Komet leuchtet jetzt umso heller. In Leipzig kann man in die Vergangenheit Berlins sehen, eine leichte, unprätentiöse Zeit. Manche Straßenzüge sehen aus wie der Prenzlauer Berg vor zehn Jahren. Mitten in der Stadt klaffen Baulücken, es herrscht der Charme der Brachflächen, der abbröckelnden Fassaden. Ganze Häuser stehen leer.
Die Stadt liegt da wie eine blanke Leinwand. Man kann günstig wohnen, sich günstig betrinken. Es gibt Altbaupartys, Luft und weiten Himmel. Man hat das Gefühl, unbeobachtet zu sein. Dieser Reiz ist nicht statisch, er existiert nur, weil er irgendwann vergehen wird. Dieser Reiz – das ist das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Leipzig hat das, was Berlin verliert – das ist kein Geheimnis mehr. Nicht nur die Stadt beginnt zu boomen, sondern auch die Berichterstattung über den Boom. Das Phänomen hat schon einen Namen: „Hypezig“. Es lässt sich kaum mehr auseinanderhalten, was der eigentliche Boom ist – und was Erzählung. Letztendlich ist das egal, denn Städte sind immer Versprechen. So ist es, seit es Städte gibt: Menschen kommen zusammen und suchen ihr Glück. Und die Versprechen, die Städte geben, sind weniger aus Zahlen und Fakten gemacht denn aus Hoffnung.
Mit der Hoffnung jener, die kommen, wächst die Angst derjenigen, die schon da sind. Am Leipziger Hauptbahnhof prangte bis vor kurzem der Graffiti-Schriftzug „Schwaben zurück nach Berlin“. Und es gibt nicht wenige Leipziger, die sich ärgern, wenn positiv über ihre Stadt berichtet wird. Wie ein Tourist, der sein verstecktes Tapas-Restaurant in der Altstadt von Barcelona plötzlich als Geheimtipp in einem Reiseführer entdeckt.
Aber ist es nicht verständlich, dass Menschen in Bussen lieber sitzen als stehen? Dass niemand eine Dreiviertelstunde nach einem Parkplatz suchen will? Dass Wohnungsbesichtigungen mit 120 Menschen unangenehm sind? Ja – sehr verständlich. Die entscheidende Frage ist aber, welche Konsequenzen man daraus zieht.
Die politischen Rahmenbedingungen müssen derart gesetzt sein, dass ein Hype wie in Leipzig nicht wie eine Heuschreckenplage über eine Stadt kommt. Eine flächendeckende Mietpreisbremse muss, anders als von der Großen Koalition geplant, ohne Ausnahmen in allen Städten gelten. Gut ist, dass ab 2015 nicht mehr Mieter für Immobilienmakler zahlen müssen, sondern der, der ihn bestellt. Also meistens der Vermieter.
Den Hype an sich kann jedoch keiner verhindern. Zum Glück. Man bekommt eine Stadt nicht zu den Bedingungen eines Dorfs. Das Paradoxe ist, dass oft diejenigen, die sich weltoffen geben, ihre Stadt am entschiedensten abschirmen wollen. Manche vollbringen das Kunststück, einen Pullover mit der Parole „Refugees welcome“ zu tragen und sich gleichzeitig darüber aufzuregen, wenn neben ihnen ein neuer Nachbar einzieht. Man sollte diese Menschen nicht allzu ernst nehmen.
Leipzig wird das neue Berlin. Der Ansturm beginnt. Wie schön.
Felix Dachsel, 27, ist taz-Autor und Schwabe. Er ist kürzlich von Berlin nach Leipzig gezogen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge